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Philologie zum Schutz der Integrität des Korantexts

Unterprojekt von Andreas Ismail Mohr

Während die in der Vormoderne getroffenen philologischen Maßnahmen zur schriftlichen Gestaltung der Texte der Hebräischen Bibel und ihrer aramäischen und griechischen Übersetzungen sowie des Neuen Testaments längst detailliert beschrieben sind, fehlt für den Koran eine solche umfassende Darstellung noch ganz. Die bereits für das erste islamische Jahrhundert (7. Jhdt.) nachweisbare Vervollständigung der zunächst fast nur konsonantischen Koranschrift durch Eindeutigkeit herstellende Zusatzzeichen mündete bald in eine eigene Disziplin ein, die nicht nur um die korrekte Aussprache, sondern auch um die euphonische Gestaltung des Textes besorgt war – die „Orthoepie“ (taǧwīd). Neben die Festlegung der phonetisch idealen Aussprache individueller Lautverbindungen (madd, idġām) trat bald die Bestimmung von Lesepausen (wuqūf), vergleichbar den Gliederungszeichen (sōf pāsūq, sillūq, atnāḥ) des hebräischen Bibeltextes.

Nicht erst die neueren Druckausgaben (wie etwa der Kairoer Koran von 1924 oder der Medina-Koran), sondern auch ältere Lithografien und unzählige Handschriften versuchen, die archaische, sogenannte ʿuṯmānische Orthografie (rasm) des 7. Jahrhunderts zu bewahren, sie aber – neben der Vokalisierung – durch spezielle Zusatzzeichen eindeutig lesbar zu machen. Nicht unähnlich der māsōrā der hebräischen Bibel notieren Korankodizes in unterschiedlichem Ausmaß Textunterteilungen (rukūʿāt als Sinnabschnitte; Einteilungen in Sechzigstel, Dreißigstel usw.) sowie abweichende Lesarten (qirāʾāt) und geben darüber hinaus die Stellen an, an denen eine Niederwerfung (saǧda) auszuführen ist – all dies Maßnahmen, die Integrität des Textes in den Grenzen des Spektrums der anerkannten, „kanonischen“ Lesarten sowie seine ideale Umsetzung in die kultisch geforderte Rezitation zu gewährleisten.

Das Unterprojekt zeichnet die Textgeschichte des Korans nach – nicht wie bisher auf der Suche nach einem „Urtext“, sondern entlang der im Text reflektierten Praktiken zur Wahrung seiner Integrität und Eingrenzung seiner Variantenvielfalt. Dabei fordert die annähernde zeitliche Koinzidenz und räumliche Nachbarschaft der philologischen Bemühungen um die Textintegrität der Hebräischen Bibel und ihrer syrisch-aramäischen Übersetzung dazu heraus, den komplexen Transferprozessen nachzugehen, die zu der von profanen Texten radikal abweichenden Gestalt des Korantextes geführt haben.