Bilder und Texte annotieren
Kulturelle Objekte, zum Beispiel Bücher, werden oftmals mit Anmerkungen versehen. Die Materialität und Medialität dieser Objekte, aber auch der institutionelle Kontext, lassen in unterschiedlichem Maße derartige Interaktionen zu. Werden Objekte digital erzeugt oder in ein digitales Format „überführt“, lassen sie sich digital annotieren. Das „Original“, zum Beispiel die Handschrift, kann dann unangetastet bleiben, wenn Annotationen am Digitalisat vorgenommen werden.
Was ist das Besondere an digitalen Annotationen?
Die Praxis des Annotierens steht also in einer langen Tradition. Die digitale Materialität und Medialität unterscheidet sich aber von derjenigen anderer kultureller Objekte. Ein wesentlicher Unterschied ist die Möglichkeit, das annotierte Objekt und das Annotat weitgehend zu trennen. Anders als die Marginalie in einem Buch, liegen Objekt und Annotat im Digitalen in der Regel auf unterschiedlichen Ebenen. Annotationen sind so wieder leichter zu entfernen, nachträglich zu ergänzen und nicht auf die Maße der Buchseite beschränkt. Digitale Annotationen, wie sie das Web Annotation Data Model des für Webstandards zuständigen W3-Konsortiums definiert, verhalten sich im Gegensatz zu engeren Begriffsdefinitionen zudem relativ neutral zu Medium und Inhalt sowohl der Annotation (body) als auch des annotierten Gegenstands (target).
Digitale Annotationen können zudem verschiedenen Ursprungs sein. Sie können von Menschen erstellt werden. Dabei werden oft bestimmte Standards genutzt (s. Begriffe ordnen) und oft wird geprüft, wie groß die Übereinstimmung zwischen Annotationen verschiedener Forscherinnen und Forscher ist (interannotator agreement). Weil das Objekt gleichzeitig von verschiedenen Standorten zugänglich ist, können prinzipiell mehrere Menschen dasselbe Objekt getrennt voneinander oder kollaborativ mit verschiedenen oder ähnlichen Erkenntnisinteressen annotieren. Digitale Annotationen in einem weiten Sinn können auch von Computerprogrammen erzeugt werden und auf Verfahren des Maschinenlernens zurückgreifen.
Ein Anwendungsbeispiel
In einem Vorhaben des Sonderforschungsbereichs zu etwa 150 griechischsprachigen Handschriften der Überlieferung von de interpretatione eröffneten digitale Annotationen zu Scholien, Diagrammen und Glossen beispielsweise die Möglichkeit, diese Hinzufügungen zu transkribieren, ihre Herkunft zu kennzeichnen und so Wanderungen von einer zur nächsten Handschrift nachvollziehbar werden zu lassen (vgl. Bilddaten in den Digitalen Geisteswissenschaften, S. 199–216). Zu diesem Zweck wird neben manuellen auch auf semiautomatische Annotationen zurückgegriffen.
Die semiautomatischen Annotationen werden genutzt, um bestimmte Bereiche des Digitalisats zu identifizieren. Das können Bereiche sein, bei denen es sich wahrscheinlich um Interlinear- oder Marginalglossen handelt. Dieser Erkennung ging ein Prozess voraus, in dem der Algorithmus auf die graphischen Besonderheiten gerade dieser Bereiche trainiert wurde.
Die Ergebnisse werden von Forschenden kontrolliert. Die Forscherinnen und Forscher können die identifizierten Bereiche vergößern, verschieben oder auch löschen. Vor allem können sie aber die Funde mit weiteren Informationen anreichern. So lassen sich zum Beispiel Texte transkribieren und übersetzen, Diagramme klassifizieren und Besonderheiten vermerken. Diese Angaben können abschließend gemeinsam durchsucht werden und auf diese Weise zum Beispiel markante Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der umfangreichen Überlieferung des Textes gefunden werden.
Literatur
Bradley, John: Towards a Richer Sense of Digital Annotation: Moving Beyond a „Media“ Orientation of the Annotation of Digital Objects, in: Digital Humanities Quarterly 6/2 (2012).
Ernst, Felix u.a.: Annotationen im Medienwandel, in: Logbuch Wissensgeschichte, hg. v. Mira Becker-Sawatzky u.a., Wiesbaden 2024 (Episteme in Bewegung 36), S. 421–438.
Götzelmann, Germaine und Danah Tonne: Aristoteles annotieren – Vom Handschriftendigitalisat zur qualitativ-quantitativen Annotation, in: in: Bilddaten in den Digitalen Geisteswissenschaften, hg. von Canan Hastik und Philipp Hegel, Wiesbaden 2020 (Episteme in Bewegung 16), S. 53–66.
Hegel, Philipp u.a.: Annotationen und ihre infrastrukturellen Prämissen, in: Empowering Researchers, hg. v. Marlene Ernst, Peter Hinkelmanns, Lina Maria Zangerl und Katharina Zeppezauer-Wachauer, Wien 2020, S. 150–153.
Krewet, Michael und Philipp Hegel: Diagramme in Bewegung: Scholien und Glossen zu de interpretatione, in: Bilddaten in den Digitalen Geisteswissenschaften, hg. von Canan Hastik und Philipp Hegel, Wiesbaden 2020 (Episteme in Bewegung 16), S. 199–216.
Lordick, Harald u.a.: Digitale Annotationen in der geisteswissenschaftlichen Praxis, in: Bibliothek – Forschung und Praxis 40/2 (2016), S. 186–199.
Meister, Jan-Christoph: Annotation als Markup avant la lettre, in: Digitale Literaturwissenschaft, hg. v. Fotis Jannidis, Berlin 2022, S. 353–383.
Rapp, Andrea: Manuelle und automatische Annotation, in: Digital Humanities. Eine Einführung, hg. v. Fotis Jannidis, Hubertus Kohle und Malte Rehbein, Stuttgart 2017, S. 253–267.
Danah Tonne u.a.: Ein Web Annotation Protocol Server zur Untersuchung vormoderner Wissensbestände, in: Multimedial und multimodal, hg. v. Patrick Sahle, Frankfurt am Main 2019, S. 285–288.
Schlagwörter
- Annotationen
- Web Annotation Data Model