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Konzept

Der SFB 980 „Episteme in Bewegung“ untersuchte Prozesse des Wissenswandels in vormodernen europäischen und nichteuropäischen Kulturen. Er fragte nach langfristigen Wissensbewegungen in spezifischen historischen Konstellationen und entwickelte ein Instrumentarium für deren Beschreibung. Die leitende Hypothese war, dass in Bezug auf Kulturen vor 1750 – sei es in Selbstbeschreibungen, sei es in späteren (Fremd)Beschreibungen – die Tendenz besteht, Wissen als unwandelbar stabil aufzufassen, dass sich ihr Wissen aber entgegen dieser Zuschreibungen in ständigem Wandel befand, oftmals sogar gerade dort, wo die besondere Stabilität des Wissens behauptet wurde.
    
Um die spezifischen Dynamiken vormodernen Wissenswandels herauszuarbeiten, hat der interdisziplinäre Forschungsverbund das zentrale Begriffspaar ‚Episteme‘ und ‚Transfer‘ als systematisch korrelierte Beschreibungskategorien entwickelt. Danach bestimmt ‚Episteme‘ Wissen als etwas, das immer mit Geltungsansprüchen versehen ist. Geltungsansprüche manifestieren sich in speziellen Diskursen und Praktiken und sind immer material und medial gebunden. Unter ‚Transfer‘ verstand der Forschungsverbund Wissenswandel im Sinne einer Neukontextualisierung von Wissen, durch die es neue Bezüge entwickelt und in neue Wechselwirkungen eintritt. Gerade diese sich ständig verändernden und reziproken Bezugnahmen erfordern es, den Wandel vormodernen Wissens jenseits traditioneller Kategorien wie Kulturraum oder Epoche zu begreifen.
    
Zu den wesentlichen Ergebnissen zählt, dass sich vormodernes Wissen den traditionellen Periodisierungskonzepten der Wissensgeschichtsschreibung verweigert; dass sich die Geltungsansprüche des Wissens im Prozess seiner Neukontextualisierung stetig verändern, weil sich beim Transfer auch die Aufnahmekontexte und Deutungsrahmen des Wissens wandeln. Auf der Basis (1) der Erprobung des Transferbegriffs im transkulturellen Kontext, (2) der Untersuchung von Zeit und Geschichtlichkeit, (3) der wissensgeschichtlichen Reflexion von Darstellung und Medialität sowie (4) der Rolle von Strukturen und Institutionalisierungsprozessen wurde das Konzept der ‚Wissensoikonomien‘ entwickelt, das die Komplexität und multidirektionale Dynamik vormoderner Prozesse des Wissenswandels in miteinander verflochtenen, pluralen Transfers genauer beschreibbar macht.
     
Mit Hilfe dieses Konzepts ließ sich zeigen, dass komplexe kulturelle Verflechtungen keinen passiven Kontext für den Wissenstransfer darstellen, sondern für Entstehung und Wandel von Wissen konstitutiv sind. Wissenstransfer ist von impliziten Normen, unsichtbaren Regelsystemen und Machtstrukturen, aber auch Prozessen des Selegierens, Reduzierens und Verschweigens von Wissen geprägt. Diese konkreten Interaktionen in und zwischen mikro- und makrostrukturellen Dynamiken des Wissenswandels wurden anhand exemplarischer Fallstudien aus den Perspektiven von Praktiken, Reziprozitäten und ‚Momentum‘ fokussiert. Der zuletzt genannte Begriff ‚Momentum‘ beschreibt Modi von Wissensbewegungen wie Beschleunigen, Verlangsamen, Arretieren oder Anstoßen. Er fragt nach Bewegungsimpulsen wie nach dem Bewegungsverhalten in Prozessen des Wissenswandels. Mithilfe dieser eng miteinander verschränkten Perspektivierungen ließen sich Reziprozitäten und multidirektionale Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Wissensoikonomien fernab monolinearer Kausalitäts- oder Kontinuitätskonzepte untersuchen und es ließ sich eine Wissensgeschichte der Vormoderne als ein Forschungsgebiet etablieren, dessen Erkenntnisgewinne von grundsätzlichem systematischem Interesse auch für die wissensgeschichtliche Erforschung der Moderne sind.