Springe direkt zu Inhalt

Antike jüdische und christliche Apokalypsen: Wissenstransfer und Gattungsdefinition

Tagung konzipiert und organisiert vom Teilprojekt C01 „Wissenstransfer in den antiken christlichen Apokryphen“ (Projektleitung: Prof. Dr. Chr. Markschies), 14.–15.11.2014

Apokalypse

Apokalypse

Die Tagung Ancient Jewish and Christian Apocalypses: Transfer of Knowledge and Genre Definition fand am 14. und 15. November 2014 in Berlin statt. Die Tagungsorte waren die Heilig-Geist-Kapelle in der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (am 14.11.2014) sowie die Theologische Fakultät (am 15.11.2014) der Humboldt-Universität zu Berlin. Inwieweit die literarische Gattung Apokalypse in der Spätantike bestimmte Wissensbereiche wie Eschatologie, Soteriologie, Angelologie und Dämonologie, aber auch weitere Wissensformen wie Ekklesiologie, Ethik und Anthropologie vorantreibt und damit bis heute jüdische und christliche Jenseitsvorstellungen tief beeinflusst, versuchte das Teilprojekt C01 des SFB 980 mit der vergangenen Tagung zu klären.
  

  

  
Teilgenommen haben folgende ReferentInnen (neben den HauptreferentInnen, siehe oben das Programm) und im Rahmen der
Short Papers einen spätantiken, apokalyptischen Text präsentiert:

Florentina Badalanova-Geller (Berlin)
Alessandro Bausi (Hamburg)
Klaus Berger (Heidelberg)
Peter Busch (Heidelberg)
Jan Dochhorn (Aarhus)
Lutz Doering (Jerusalem/Münster)
Judith Hartenstein (Koblenz-Landau)
Uta Heil (Erlangen-Nürnberg)
Andreas Heiser (Ewersbach)
Mattias Henze (Houston)
Nestor Kavvadas (Tübingen)
Jutta Leonhardt-Balzer (Aberdeen)
Julian Petkov (Heidelberg)
Karl Pinggéra (Marburg)
Uwe-Karsten Plisch (Berlin)
Jens Schröter (Berlin)
Harald Suermann (Bonn)
Claudia Tiersch (Berlin)
Emanouela Valeriani (Rom)
Vadim Vitkowsky (Berlin)
Gregor Wurst (Augsburg)
Claudio Zamagni (Genf).

Im Zentrum der Betrachtung ausgewählter apokalpytischer Schriften stand die Frage, wie die Gattung Apokalypse zu definieren ist. Die phänomenologischen Definition, die John J. Collins 1979 vorgelegt hat, wurde zu Beginn der Tagung von Collins neu aufgegriffen. Zum Verhältnis von jüdischen und christlichen Apokalypsen hat Martha Himmelfarb eine wegweisende Denkrichtung vorgegeben. Jane Baun hat den Bereich des Wissenstransfers in der späten Apokalyptik eindrucksvoll vorgeführt; die drei genannten Keynote Lectures werden hier kurz zusammengefasst:
 

John J. Collins (Yale Divinity School): The Genre Apocalypse Reconsidered

Prof. Dr. John J. Collins hat an die Debatten erinnert, die der Veröffentlichung seiner berühmten, 1979 im Heft 14 der Zeitschrift Semeia erschienenen Definition der Gattung Apokalypsen folgten. Er hat auf einige Kritiken reagiert, die in den letzten 35 Jahren an der Definition geübt worden sind. In ihrer ursprünglichen englischen Formulierung lautet die Definition “Apocalypse is a genre of revelatory literature with a narrative framework, in which a revelation is mediated by an otherworldly being to a human recipient, disclosing a transcendent reality which is both temporal, insofar as it envisages eschatological salvation, and spatial insofar as it involves another, supernatural world.” Diese Definition basierte auf jüdischen, christlichen und gnostischen Texten, die zwischen 250 v.Chr. und 250 n.Chr. geschrieben wurden. Bei einer der wichtigsten Kritiken handelte es sich darum, dass Collins‘ Ansatz die Selbstpräsentation der antiken Texte nicht genügend in Betracht ziehe. Die Semeia-Gruppe hatte aber bewusst, erwidert Collins, Apokalypse und Apokalyptik als moderne Kategorien verwendet, die dem modernen Leser heuristisch erlauben, Verwandtschaften zwischen den Texten wahrzunehmen, die den antiken Autoren nicht immer bewusst waren (while I do not dispute the value of emic analysis of the self-presentation of texts, this does not invalidate the use of analytic categories, based on the commonalities we now perceive between ancient texts, whether their authors perceived them or not.). Andere Kritiker haben der Definition vorgeworfen, dass sie in einen Teufelskreis gerate: Sie berücksichtige nur diese Texte, die zu einer von vornherein erdachten Definition passen. Auf diesen Vorwurf hat Collins erwidert, indem er auf die kognitivpsychologische Prototype Theory verwiesen hat. Da das menschliche Gehirn einfacher auf der Ebene der Prototypen klassifiziert, bilden laut dieser Theorie Gegenstände, die instinktiv als zentral für eine Kategorie wahrgenommen werden, den Kern einer kategorialen Klassifizierung (a very concrete logic of typicality); eher als klare Grenzen hilft die Prototype Theory Klassen aufzubauen, die einen sehr bestimmten Kern haben, und deren Ränder allmählich verblassen. Die Semeia-Analyse der Gattung Apokalypse, meint Collins, ähnelt dem Prototype-Modell: sie ging von einer Liste von Apokalypsen aus, die als prototypisch bezeichnet werden können, und versuchte, einen Unterschied zwischen zentralen und peripherischen Charakteristiken zu unterscheiden. Im letzten Teil seines Vortrags hat sich Collins mit der Frage der diachronen Entwicklung der Gattung auseinandergesetzt. Manche Kritiker haben betont, dass seine Definition ausschließlich synchron ist. Collins gibt dies zu, fügt aber hinzu, dass seine Definition nie mehr als ein Werkzeug gemeint war, das den Gelehrten erlauben sollte, sich in einer breiten und schwierigen Literatur zu orientieren: weitere Forschung, insbesondere diachronen Charakters, ist erwünscht und sehr willkommen.
   

Martha Himmelfarb (Princeton University): Eschatology and Empire: A Parting of the Ways for Jewish and Christian Apocalypses?

Prof. Dr. Martha Himmelfarb hat 3 Baruch als repräsentatives Beispiel des Verfahrens benutzt, womit man entscheidet, ob ein Text als christlich oder jüdisch zu betrachten ist.

Wenn wir es ausschließlich mit den apokalyptischen Schriften zu tun hätten, die von den Juden überliefert wurden, hätten wir jetzt nur Daniel und einige apokalyptische Texte aus Qumran. Eine der wichtigsten Entwicklungen in der Forschung über die Literatur des zweiten Tempels war die Anerkennung der christlichen Überlieferung dieser Literatur. M.R. James war der Meinung, dass die christlichen Merkmale in diesen Texten Zeichen christlicher Autorschaft seien, Charles hielt sie im Gegenteil für Interpolationen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert folgten die meisten Gelehrten der Meinung von Charles, obwohl M. De Jonge schon in den 50er Jahren eine Interpretation der Testamente der 12 Patriarchen als christliche bzw. stark christianisierte Texte aufstellte. Etwas später war Robert Craft der erste, der explizit behauptete, dass die christlich überlieferten jüdischen Pseudepigraphen gewissermaßen als christliche Literatur betrachten werden sollen, so wie z.B. das Alte Testament selbst als christlicher Text betrachtet wird. Warum ist 3 Baruch ein guter test case? Der Text führt eine biblische Hauptfigur und mehrere Züge von alten jüdischen Apokalypsen vor, wo eine Himmelfahrt beschrieben wird; er bietet aber auch ungewöhnliche Charakteristika dar, z.B. die Bestrafung der Erbauer des Turms von Babel, die versucht hatten, Gott zu erreichen, und v.a. die Tatsache, dass Baruch, anders als Henoch in anderen Apokalypsen, nicht glorifiziert noch engelgleich wird. Laut Collins weist der Mangel an spezifischen jüdischen Zügen in 3 Baruch darauf hin, dass sich nach der Zerstörung des Tempels einige Juden dafür entschieden hatten, ihre Lehre zu “delokalisieren”, mehr Aufmerksamkeit auf eine universale Weisheit über das mosaische Gesetz hinaus zu lenken, und auf den Jerusalemer Kult zu verzichten. Himmelfarbs experimentelle Hypothese ist eher, dass 3 Baruch von christlichen Mönchen im Ägypten des 4. Jahrhunderts geschrieben wurde. James hatte schon einige Verwandtschaften zwischen 3 Baruch und der Paulusapokalypse (einem Text, der ebenfalls im 4. Jahrhundert im Ägypten von einem Mönch verfasst wurde) bemerkt; insbesondere verweigern beide Texte dem Seher einen engelgleichen Status. Nun schlägt Himmelfarb vor, dass 3 Baruch als eine monastische Reaktion auf die Glorifizierung des Sehers gelesen werden könnte, die u.a. das im monastischen ägyptischen Zirkeln weitgehend gelesene 2. Henochbuch bezeugt. Das Schreiben von Apokalypsen wäre dann für die ägyptischen Mönche ein Mittel der Konfrontation von kollidierenden Ansätzen zum theologischen Wissen.
  

Jane Baun (University of Oxford): “Forth Out of His Treasure Things New and Things Old” (Matthew 13:52): Knowledge Transfer between Late Antique and Medieval Apocalypses in the Byzantine Sphere

Rev. Dr. Jane Baun hat am Beispiel drei später apokalyptischer Texte (9.-10. Jahrhundert: die Apokalypse des Andreas Salos, die Apokalypse der Anastasia und die Apokalypse der Theotokos) vorgestellt, wie ein sehr einflussreicher spätantiker Text wie die Paulusapokalypse (4. Jahrhundert) auch in viel späteren Texten immer wieder entwickelt wurde. Dr. Baun betonte insbesondere, wie gewisse theologische Wissensbestände in diesen späten Apokalypsen transformiert wurden. In der byzantinischen Welt, wo Gott und Christus immer ferner rückten und „bürokratisiert“ wurden, spielte Maria als Hauptfigur eine wichtigere Rolle, als sie in der Spätantike gespielt hatte. Anders als in der Paulusapokalypse und in der Spätantike überhaupt, gab es in den byzantinischen Texten Raum für eine Art „Protest“ gegen Gottes Zorn: z. B. in der Apokalypse der Theotokos kann Maria die Leiden der gefolterten Sünder in der Hölle nicht akzeptieren und bietet sich selbst für dessen Erlösung als Opfer an. Der zweite Schwerpunkt des Vortrags war die Sorge des byzantinischen Menschen für das Wetter, die sich in das Jenseits transfundierte. In den byzantinischen Apokalypsen werden nicht selten atmosphärische Phänomene beschrieben, deren Schilderung ein wertvoller Zeuge der populären Wettervorstellung dieser Epoche darstellt. Die Gattung Apokalypse wird in diesem Sinne zu einem wichtigen Spiegel nebenwissenschaftlichen Wissens.
  

* * *

Aus der Tagung werden zwei Produkte hervorgehen: Zum einen werden die Hauptvorträge im Sonderheft der Zeitschrift für Antikes Christentum im Januar 2016 bei De Gruyter publiziert werden. Zum anderen wird im Rahmen des Projekts C01 des SFB 980 Episteme im Bewegung ein digitales Motivbuch erarbeitet, in dem das gattungsübergreifende apokalyptische Wissen der Spätantike systematisiert wird. Dass die Tagungsteilnehmenden daran mitarbeiten, ist ebenfalls ein Ergebnis der vergangenen Tagung.