Springe direkt zu Inhalt

Picturing the Revelation: Dreams, Prophecy and Imagination in Medieval Traditions

Workshop B03 „Imaginatio. Imaginatives Sehen und Wissen – Theorien mentaler Bildlichkeit in Philosophie und Theologie des Mittelalters” und A05 „Von Logos zu Kalām: Figurationen von Sprachwissen in der vorderorientalischen Spätantike”, 7.–8.12.2017

15.01.2020

Der Prophet Daniel aus einer A-Initiale

Der Prophet Daniel aus einer A-Initiale
Bildquelle: Bamberger Daniel-Kommentar (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 22, fol 32r), 3,292 x 4,379, um das Jahr 1000.

Bericht von Hanna Zoe Trauer

Die Frage nach dem Status von Offenbarungserfahrungen und ihrer Deutung und Darstellbarkeit spielt in Heiligen Texten eine zentrale Rolle. Doch wie lässt sich Gottes Offenbarwerden als Quelle von Wissen, als Ausdruck einer prophetischen Weisung oder etwa eines inneren Gewahrwerdens göttlicher Selbstmitteilung überhaupt fassen und vor allem bewahrheiten? 

Hier werden prophetische Visionen, Träume oder mentale Zustände einer blitzartigen Gotteserfahrung relevant, wie wir sie etwa aus der hebräischen Bibel/Tanach, aus der christlichen Bibel oder dem Koran kennen. Doch lässt sich ein von Gott gewirktes Offenbarungsgeschehen, das über alle begriffliche Fassbarkeit oder Beschreibbarkeit hinausgeht, überhaupt mitteilen? Welche Rolle spielen hierbei inneres 'Sehen', 'Hören' bzw. unterschiedliche Formen übersinnlicher 'Erfahrungen'? Wie verhalten sich hierbei Passivität und Aktivität des Empfängers von Offenbarungen? 

 
Diesen gemeinsamen Fragen ging der Workshop im Vergleich von Konzepten aus islamischen, jüdischen wie christlichen Traditionen der Spätantike und des Mittelalters und deren Voraussetzungen nach. Im Zentrum standen die Auffassungen von Offenbarung in unterschiedlichen Kulturen, die jeweiligen Begründungen eines spezifischen Wahrheitsgeschehens sowie die Medien, in denen Gotteserfahrung in vermittelter Form 'zur Sprache' kommt. Offenbarung ist vielfach konnotiert mit einer Gleichzeitigkeit von Enthüllung und Geheimnis, Verbergen und Zeigen im Rätsel wie mit der Prophetie als Vermittlung des Zukünftigen, das sich in Visionen, Traumbildern oder Zeichen, d.h. in indirekten Medien artikuliert, die übersetzt und interpretiert werden müssen. Dabei gilt etwa in der jüdischen Tradition, dass der unaussprechliche Gott oder seine Selbstmitteilung außerhalb jeder empirischen Begreifbarkeit oder Darstellbarkeit (Bilderverbot) liegen. Aber trotz der Unbegreiflichkeit und Unbegrifflichkeit des göttlichen Offenbarungsgeschehens besteht die Herausforderung, Offenbarungen als besondere Art des Wissens, als 'Episteme', auszuzeichnen: Wie setzt sich dieser Gegensatz in Texten, literarischen Narrativen, in bildlichen Visionen, in Traumsequenzen oder Vorstellungen eines inneren Hörens um? Wie werden Offenbarungen zur Sprache gebracht oder ins Bild gesetzt? Welche Rolle kommt den Propheten zu? Welches metaphysische, physiologische, medizinische oder anthropologische Wissen um den Charakter von Offenbarung fließt in Diskurse um Offenbarungen ein? In welchen Medien und Materialien wird Offenbarung reflektiert? 

Die Formel 'Picturing the Revelation’ sollte somit auch als Frage danach verstanden werden, welche Darstellungsformen und -medien durch den Anspruch an ein Offenbarwerden provoziert werden und wie sich die theologische Paradoxie einer Darstellung des Nichtdarstellbaren auf theoretische Begründungen wie ästhetische Verfahren auswirkt. So wurden Auseinandersetzungen um den Status von Offenbarung als Wissensmodus und Dynamiken eines transkulturellen Wissenstransfers in den Fokus gerückt.

 
Angelika Neuwirth (FU Berlin) eröffnete den Workshop mit ihrem Vortrag zur Reinszenierung der Visionen Ezechiels und Muhammads im jüdischen und islamischen Gottesdienst. Sie argumentierte, dass die nächtliche Reise Muhammads (al-Isrāʾ) als transzendentale Entrückung nach Jerusalem zu verstehen sei. Zahlreiche Darstellungen in der islamischen Kunst zeigen den Propheten stets über der Erde. Die spirituelle Reise des koranischen Verkünders ruft zugleich terminologisch den Exodus der Israeliten aus Ägypten auf und überträgt das biblische Motiv der Befreiung von politischer Unterdrückung typologisch auf die eigene innere Befreiung Muhammads. Die Reinszenierung der Himmelsreise in der Liturgie illustrierte Neuwirth anhand zweier Beispiele: Die Aufrichtung aus der Gebetshaltung bei Erwähnung der Isrāʾ findet eine Entsprechung in der jüdischen Liturgie, der Erhebung auf die Zehenspitzen zum Ezekiel-Vers „Gelobt sei die Herrlichkeit des Herrn an ihrem Ort“. Hier zeigt sich, wie das Gebet — für das der Betende um einen „gesegneten Ein- und Austritt“ bittet — zugleich zur spirituellen Reise wird, und die Erhebung des Propheten nachvollzieht. 

Die Thronvision des Ezekiel beschäftigte auch Anne Eusterschulte (FU Berlin). Sie zeigte anhand der mittelalterlichen Rezeption dieser Vision und verschiedenen künstlerischen Umsetzungen, welche Schwierigkeiten es bereitete, die Beschreibung dieser Schau bildlich zu fassen. Zugleich betonte sie, dass es sich dabei nicht um ein Scheitern handeln muss: Die Bilder verweisen vielmehr selbst darauf, dass etwas dargestellt wird, das sich der Darstellung stets entzieht. In theoretischen psychologischen Schriften ist wiederum der Versuch erkennbar, eine solche prophetische Schau erkenntnistheoretisch zu bewahrheiten und aus diesem Grund die phantasia als übersinnliches, prophetisches Organ zu plausibilisieren. Dies zeigte Anne Eusterschulte an illustrierenden Zeichnungen in mittelalterlichen psychologischen Abhandlungen.

Ein biblischer Bericht und dessen Auslegung standen auch im Zentrum des Vortrages von Yehuda Halper (Bar Ilan University). Der an das Hohelied anschließende Kommentar Johanan Alemannos  (15. Jh.) mit dem Titel Heshek Shelomo betrachtet das göttliche Offenbarwerden unter dem Aspekt der Liebe des Menschen zu Gott und Gottes Liebe zum Menschen. Halper zeigte, wie Alemanno aristotelische Begrifflichkeiten und platonische Konzepte verweben und zu einer besonderen Vorstellung von Offenbarung auf Grundlage des Begehrens gelangen konnte: Das menschliche Begehren steigt auf einer Leiter von der körperlichen Liebe zum geistigen Begehren auf, bis es zum reinen Begehren des Göttlichen gelangt, welches in der göttlichen Liebe für den Menschen erwidert wird. Erst diese Erwiderung erlaubt dem so Begehrenden Zugang zu den Intellekten der Sphären, welcher ihn zum wahren Propheten macht. Zugleich konnte Alemanno das Hohelied so als biblischen Bericht über diese Form der Interaktion des Menschen mit Gott als ein gegenseitiges Begehren heranziehen und die biblische Darstellung somit im Kontakt mit Renaissancegelehrten wie Ficino und Pico als willkommene Ergänzung zur platonischen Darstellung im Symposium ausweisen.

Beate La Sala (FU Berlin) betrachtete die Frage nach dem epistemischen Status der Träume in Al-Fārābīs Abhandlung über die 'tugendhafte Stadt' (al-madīna al-fāḍila) und stellte die Träume so in den größeren Kontext der Frage nach der Rolle des aktiven Intellekts und der Imagination für den Wissenserwerb: Die Imagination steht für Al-Fārābī als Kraft zwischen den Sinnen und der Vernunft, und ist nicht nur in der Lage, Sinneseindrücke nachzuahmen, sondern auch Intelligibilien in bildlicher Form darzustellen. Obwohl die Imagination den Träumenden so durchaus dazu befähigt, Erkenntnis gegenwärtiger und zukünftiger Partikularien zu erhalten, wies Beate La Sala auf den epistemologischen Status eines solchen Zukunftswissens in Al-Fārābī’s Ansatz hin: dieses Wissen allein befähigt einen Herrscher noch nicht zu idealer Herrschaft, sondern es bedarf ebenfalls der universellen  theoretischen Einsichten ins Göttliche, welche für Al-Fārābī nur auf dem Weg der rationalen Erkenntnis zu erlangen seien.

Mit der Frage, welche Art von Wissen der Mensch im Traum erhalten kann, beschäftigte sich auch Lukas Mühlethaler (FU Berlin) unter Bezugnahme auf ein ganz besonderes Beispiel: Moses ibn Ezra, einer der bekanntesten mittelalterlichen jüdischen Dichter, widmete eine Abhandlung der Frage, ob man ein Gedicht im Traum erhalten kann. Dabei kommt ibn Ezra zu einer Unterscheidung derjenigen Träume, die aus dem sensus communis kommen (und keine neuen Erkenntnisse liefern), sowie der wahren Träume, die durch den aktiven Intellekt vermittelt werden, und prophetischen Charakter haben. Mühlethaler konnte zeigen, wie die Wertschätzung der Träume und die Anerkennung von poetischen Offenbarungsträumen gerade auf den Einfluss der biblischen Texte zurückgehen, die von Moses ibn Ezra als Beweise für den besonderen Status der Träume in seine an Galen und Aristoteles angelehnte Argumentation eingeflochten werden.

Nora K. Schmid (FU Berlin) thematisierte Offenbarungserfahrungen von einer anderen Seite, nämlich von zwei Beispielen frühislamischer Textfrömmigkeit her, die sich in nächtlichen Vigilien vollzieht – also gerade dann, wenn Schlaf und Traum durch eine bewusste Anstrengung zurückgehalten werden: An den frühmekkanischen, psalmistisch geprägten Suren des Korans und an der Dichtung der frühislamischen religiösen Gruppe der Kharijiten. Vermittels eines Überblicks über praxisbezogene Inhalte in beiden Textsorten ordnete Schmid diese Form der frühislamischen Frömmigkeit in eine Tradition spätantiker Askese ein, die körperliche und textliche Übungen mit einem besonderen Wissensgehalt versah, der stets an das Wort Gottes gebunden war. In Schmids Darstellung erwiesen sich die Vigilienszenarien im Koran und in der kharijitischen Poesie als zwei unterschiedliche Spielarten spätantiken asketischen Wissens, die mit Vorstellungen zur körperlichen und emotionalen Verinnerlichung des Gotteswortes vor allem im monastischen Christentum in engem Zusammenhang stehen.

Yossi Schwartz (Tel Aviv University) gab in seinem Vortrag einen Einblick in einen mittelalterlichen Disput über den Status der Engel, der sich an einer Bibelstelle entzündete und weitreichende Konsequenzen hatte: Jakobs Kampf mit dem Engel am Jabbok ist eine von Körperlichkeit geprägte, in einigen Darstellungen geradezu sexualisierte Szene — doch sollten die Engel nach gängiger Auffassung unkörperliche und supralunare Wesen sein. Maimonides führte die Vorstellung von Engeln als körperliche Wesen auf die unzureichende menschliche Imagination zurück, die nicht erfassen kann, wie Unkörperliches aufeinander wirkt. In seiner Nachfolge entbrannte in Italien ein gelehrter Streit zwischen Hillel von Verona und Zerahya ben She’alti’el Hen, im Verlaufe dessen Hillel versuchte, zumindest die körperlichen Auswirkungen des Kampfes mit dem Engel durch eine kreierte Bewegung der Luft zu erklären — Zerahya hingegen lehnte jegliche Möglichkeit eines körperlichen Eingreifens durch Engel ab. Anhand dieses Disputs zeigte Yossi Schwartz zugleich, welche Herausforderungen die unterschiedlichen Einflüsse der arabischen und lateinischen Philosophie für jüdische Denker darstellten.

Im Anschluss lenkte Wilhelm Schmidt Biggemann (FU Berlin) die Aufmerksamkeit auf eine grundsätzliche Frage der Wahrnehmung prophetischer Visionen: Während man vielleicht davon ausgehen würde, dass die Dogmatik mit den prophetischen Bildern umgehen müsste, lässt sich doch auch zeigen, dass die Dogmatik die Bilder zumindest mitprägte: Im Himalaya, so Schmidt-Biggemann, gibt es keine Marienerscheinungen. Anhand der Visionen von Hildegard von Bingen und Brigitta von Schweden zeigte er auf, dass die genaue Kenntnis der bestehenden Lehre die Frauen dazu befähigte, die Schau zu bewahrheiten und von Wahn oder Fiebertraum abzugrenzen; so gehe in der typischen Biographie den Visionen eine melancholische Lese- und Sammelphase voran. Durch die Dogmatisierung der Theologie seien die Visionen daher nicht etwa geringer, sondern gerade präziser geworden.

Nora Schmidt (FU Berlin) fokussierte in ihrem Vortrag das koranische Gleichnis (mathal), welches eng mit der Problematik der Vermittlung prophetischen Wissens zusammenhängt. Das Gleichnis als eine Ausdrucksweise unbewusster Bilder hat einen ähnlichen epistemischen Status wie der Traum. Anhand zweier koranischer Gleichnisse lotete Nora Schmidt die Möglichkeiten einer tiefenpsychologischen Deutung koranischer Gleichnisse aus. Ausgehend von Erfahrungen mit tiefenpsychologischen Interpretationen der Gleichnisse Jesu unternahm Schmidt den Versuch, das Gleichnis von den Bewohnern der Stadt in Sure 36 und das Gleichnis von den zwei Gärten in Sure 18 „auf der Subjektebene“ zu deuten.

Die Stimme Gottes stand im Mittelpunkt des Vortrages von Hanna Zoe Trauer (FU Berlin), die zeigte, wie sich der skizzierte Konflikt, ein über die Fassbarkeit hinausgehendes Gottesgeschehen überhaupt mitzuteilen, schon im biblischen Text äußert: die Sinai-Offenbarung wird einerseits abgesichert nicht zuletzt dadurch, dass alle Israeliten die göttliche Stimme hören (oder gar sehen) konnten — und doch war die Stimme zu furchtbar, um von Menschen gehört zu werden. In den mittelalterlichen Interpretationen dieser Stelle herrschte so Uneinigkeit nicht nur darüber, ob die Stimme gehört worden sei oder nicht, sondern auch, wie sich die göttliche von einer gewöhnlichen Stimme unterscheidet. Hanna Zoe Trauer zeigte wie die Philosophen vermittels ihrer Diskussionen über diese Besonderheit und durch die Beantwortung der Frage, ob es sich um eine innere oder äußere Stimme handelte, ihre jeweiligen Konzepte von Prophetie verhandelten und präzisierten.

In ihrem Vortrag The Sound of Announcement Isn’t Any Longer. Art, Nature, and Silence ging Hana Gründler (KHI Florenz) auf die Offenbarung in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts ein. Sie betonte auch die dunkle Seite der Prophezeiungen und die düsteren Vorhersagen melancholischer oder wahnsinnig gewordener Propheten, die oft ungehört bleiben. Anhand Christa Wolf’s Kassandra und Andrei Tarkovsky's Andrei Rublev behandelte Hana Gründler den Zusammenhang von innerem und äußerem Sehen sowie die Frage nach der Sichtbarmachung des Unsichtbaren, wie sie auch in Gerhard Richters Annunciation after Titian deutlich wird. In ihrem Vortrag beleuchtete Frau Gründler der Bedeutung der Melancholie und Manie, sowie (man denke beispielsweise an die Problematik des Verhältnis von Mythos und Logos in Pasolonis Medea) des körperlichen, intuitiven, imaginativen Sehens für die Prophetie.


Der Workshop zeigte, nicht zuletzt durch die Vielfalt an Zugängen aus unterschiedlichen Disziplinen, welchen zentralen Stellenwert die Diskussion über den Status und die auf unterschiedliche Weise geltend gemachten Wissens- und Wahrheitsansprüche von Offenbarungserfahrung im Mittelalter hatte. Es galt, das Offenbarungsgeschehen als ein göttlich verliehenes Wissen zu plausibilisieren und auf diese Weise dessen Geltungsanspruch zu begründen. Aus den Vorträgen ging hervor, dass der Status von Offenbarung als spezifische Erkenntnisweise nicht nur im Bereich theologischer Schriften und der Schriftexegese, sondern ebenso in künstlerischen Umsetzungen, in der Psychologie und Medizin, in poetologischen Überlegungen, in der politischen Philosophie, in der Liturgie und bereits innerhalb der Berichte über die jeweiligen Visionen und Offenbarungen verhandelt wurde. Die Verflechtung und wechselseitige Beeinflussung zwischen den verschiedenen Bereichen, die auch an vermeintlichen kulturellen Grenzen nicht Halt machte, wurde in zahlreichen Vorträgen deutlich und zeigt die Relevanz des Themas für vormoderne Autoren, die auf der Suche nach Erklärungsmodellen bestehendes Wissen neu verknüpften und kontextualisierten und dabei auch die Grenzen ihrer Konfessionen überschritten.

 
Die vergleichende Perspektive und der Ansatz einer systematischen Betrachtungsweise von Offenbarungswissen haben sich als hilfreiche Heuristik für die sprachlich, kulturell und religiös diversen Phänomene erwiesen. Ausgehend von Vergleichen, der Feststellung von Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in den Rekursen auf heilige Schriften und Offenbarung in jüdischen, christlichen und islamischen Traditionsbeständen, wären nun unter anderem religionspolitische Differenzen, Abgrenzungen und Antagonismen zu fokussieren und nach historischen Verläufen, langfristigen Transfers und etwaigen Strukturen von Offenbarungswissensgemeinschaften zu fragen. Eine Folgeveranstaltung, die diesen Fragen nachgehen kann, ist für 2019 geplant.