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Michael Maier und die Formen (al)chemischen Wissens um 1600

Eine Tagung veranstaltet von Dr. Simon Brandl und Prof. Dr. Volkhard Wels im Rahmen des Teilprojekts A06 „Alchemia poetica. Chemisches Wissen und Dichtung um 1600“ an der Freien Universität Berlin, 27.–29.09.2022

07.11.2023

Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est, Emblemata nova de secretis naturae chymica, Oppenheim 1618, Emblem XLII.

Michael Maier: Atalanta fugiens, hoc est, Emblemata nova de secretis naturae chymica, Oppenheim 1618, Emblem XLII.

Bericht von Julia Beier, Gesa Blume und Simon Brandl

Teilnehmer·innen und Tagungsbeiträge:

Oliver Humberg (Bergische Universität Wuppertal): Wege und Irrwege des Michael Maier.

Sarah A. Lang (Universität Graz): Michael Maiers Viatorium (1618): Mythoalchemisches ‚Book of Secrets‘ oder Alchemielehrbuch?

Rainer Werthmann: Welche chemischen Kenntnisse zeigt Michael Maier in seinem Buch VIATORIUM, hoc est, DE MONTIBUS PLANETARUM septem seu Metallorum?

Simon Brandl (Freie Universität Berlin): ficta, poëtica, allegorica. Zum spielerischen Umgang mit (al)chemischem Wissen in der Atalanta fugiens.

Tara E. Nummedal (Brown University Chicago): Gender, Matter, and Secrets in Atalanta fugiens.

Peter Forshaw (University of Amsterdam): Michael Maier, Mercurius Hieroglyphicus and Hermes Trismegistus. 

Didier Kahn (CNRS/Sorbonne Université): The Fifteenth-Century Alchemical Mass, its Literary Form, and Reception by Michael Maier.

Bruce T. Moran (University of Nevada): Poetry in the Preface and the Sentiment of Alchemy around 1600: the Case of Joachim Tanckius.

Tobias Bulang (Universität Heidelberg): Die Heilsgeschichte des Großen Werks. Die pseudoparacelsische Aurora Philosophorum.

Philipp Hegel (Technische Universität Darmstadt): Wissenshistorische Kommentare und kontrollierte Vokabularien: Überlegungen zur Atalanta.

Volkhard Wels (Freie Universität Berlin): Der Phoenix ist nicht zu Hause. Michael Maiers alchemische Wunderkammern.

 

Die Tagung befasste sich mit dem frühneuzeitlichen Autor Michael Maier (1568–1622) und dessen Werk sowie allgemein mit poetischen Darstellungsformen (al)chemischen Wissens um 1600. Die Präsentation und Diskussion von Forschungsergebnissen erfolgte unter Gewichtung der Themenkomplexe von Naturphilosophie, Chemiegeschichte, Religion, Poetologie, Gender, Text- und Editionsgeschichte, Mythoalchemie, Naturfrömmigkeit, Wissensvermittlung und Texterschließung anhand digitaler Verfahren. Ziel war einerseits, die (Al)Chemie um 1600 als ein komplexes Geflecht von epistemischen Strängen, die jeweils an verschiedene Wissenstraditionen anknüpfen, einander kreuzen, sich überlagern und miteinander in Wechselwirkung stehen, sichtbar werden zu lassen. Andererseits sollen diese Wissensdynamiken aber auch unter diachroner Perspektive näher beschrieben werden, insofern die frühneuzeitliche (Al)Chemie selbst schon eine Wissenspraktik ist, die nur als Rezeption und somit Transfer eines älteren Wissens fassbar wird.

Oliver Humberg (Wuppertal) zeichnete den Lebens- und Bildungsweg Maiers nach. Hierbei ergänzte er Maiers eigene Angaben in De Medicina regia et vere heroica, Coelidonia (1601) um weitere Archivquellen und führte auf dieser Grundlage in die intellektuelle Welt Maiers ein. Auch konnte er mit der Triga Palatina (1610) eine bislang unbekannte gedruckte Publikation Maiers ausfindig machen. In noch unausgewerteten Daten, die Maiers Freundschaft mit dem Didaktiker Wolfgang Ratke (1571–1635) belegen, erkennt Humberg einen bedeutsamen Ausgangspunkt für die zukünftige Erforschung von Maiers Biographie.

Sarah A. Lang (Graz) stellte die Frage nach der Einordnung von Michael Maiers Viatorium (1618), das hinsichtlich seiner Merkmale zwischen einem mythoalchemischen Rätselbuch und einem Alchemielehrbuch schwankt. Hierbei zeigte sie, dass das Werk trotz seiner dunklen Ästhetik durchaus auf die Vermittlung eines (al)chemischen Wissens angelegt ist. Dem jedenfalls entspricht der Umstand, dass das Werk sich laut der Titelseite als eine Art ‚Wegweiser‘ ausgibt; in diesem Sinne gleiche es einer Hermes-Statue, die zur Orientierungshilfe an der Wegkreuzung steht, dem Faden der Ariadne und dem Nordstern. Die allegorischen Bilder, die dem Viatorium beigegeben sind, fungieren demnach als ‚Prüfsteine‘, an denen sich entscheidet, ob der Leser den Inhalt des vorangegangenen Kapitels durchschaut hat. Sie dienen nicht nur der Ausschmückung, sondern auch als Anhaltspunkte für all diejenigen, die sich im ‚Meer‘ der chymischen Irrtümer verirrt haben.

Dem Viatorium widmete sich der Vortrag von Rainer Werthmann (Kassel). Werthmann gab hierbei Einblick in Maiers (al)chemische Wissenschaftlichkeit und die Dokimastik um 1600, indem er die chemischen Hintergründe von Maiers schriftstellerischer Tätigkeit beleuchtete. Ausgehend von dem Befund, dass Maier im Viatorium chemische Sachverhalte mit überraschend realitätsnahen Beschreibungen wiedergibt, zieht Werthmann den Schluss, dass Maier äußerst profunde Kenntnisse von Substanzen und ihren Reaktionen besaß, die er wohl teils aus Fachbüchern, teils aus eigener Anschauung bezog. Maier lasse sich demnach im Kontext des Übergangs von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft als früher Empiriker verstehen, der seine chemischen Erkenntnisse auf Laborerfahrung sowie auf eine solide methodische Arbeitsweise stützte und dabei „das Wissen seiner Zeit durch die Mühle seiner [eigenen] Kritik drehte“. 

Simon Brandl (Berlin) zeigte in seinem Vortrag zum spielerischen Umgang mit (al)chemischem Wissen in der Atalanta fugiens (1617/18), dass Maier gemäß seines Vorsatzes, dem Leser „Erfundendes, Poetisches und Allegorisches“ zu präsentieren, eine unterhaltsame Vermittlung von Wissen intendiert, die den Gehör- und den Gesichtssinn, aber auch den Intellekt adressiert. Zu den poetischen Anteilen der Atalanta zählt neben Epigrammen, Wortspielen, Rätseln, Fugen und Emblemen auch die Erzählprosa, welche sich Maier eigen macht, indem er in den discursus aus einem reichen Fundus an Anekdoten, Mythen oder historiographischen Überlieferungen schöpft. Das Element des Spielerischen, das all diese Darstellungsformen (al)chemischen Wissens miteinander verbindet, lässt sich mit dem lateinischen Begriff ludus beschreiben; zu verstehen als ein heiteres Arrangement von Wissens-, Bild- und Stilelementen, vor allem aber auch als eine Schule, die der Schärfung des Intellekts dient.

Tara E. Nummedal (Chicago) ging in ihrem Vortrag dem Verhältnis von (al)chemischer Bildlichkeit und gesellschaftlich etablierten Konventionen und Ritualen nach, so etwa mit Blick auf den rechtlichen Rahmen von Eheschließungen und den Fortpflanzungspolitiken der Frühen Neuzeit. Nummedal machte in diesem Kontext auf das provokante Potenzial des vierten Emblems der Atalanta aufmerksam, welches das Motiv des Inzests auf (al)chemische Prozesse überträgt, indem es laut seiner inscriptio zu einer Verbindung von Bruder und Schwester mithilfe eines Liebestranks aufruft. Demnach integrierte Maier die (Al)Chemie als eine deviante Stimme in der Debatte über Begehren und Reproduktionspolitik; mithin als eine Stimme, die innerhalb der frühneuzeitlichen Auseinandersetzung mit Inzest und Liebeszauber in der visuellen Kultur und Theologie für eine – freilich allegorisch zu verstehende – Billigung von Geschwisterehen plädierte, welche indirekt die Grenzen des Erlaubten strapazierte.

In seinem Vortrag zu Maiers Rezeption der Figur des Hermes Trismegistus zeigte Peter J. Forshaw (Amsterdam) auf, dass Maier sich darum bemüht, als Apologet der hermetischen Kunst nicht als heidnisch wahrgenommen zu werden, weshalb er die trinitarischen und somit christlichen Aspekte der ars Hermetica betont und deren pagane Anteile weitgehend ignoriert bzw. transformiert. Ihren wohl höchsten Ausdruck findet Maiers ‚Christianisierung‘ des Hermes in den Arcana arcanissima (1614), in denen dieser als „animae et corporis Medicus Ihesus Christus“ aufgerufen wird. Daneben fungiert Hermes als Begründer einer Tradition von Chymisten, die um 1600 in Maier einen ihrer treuesten Gefolgsleute findet. Dies zumindest geht aus der Spongia muriatica (1618) hervor, die für sich die Autorschaft eines „Hermes Malavici“ – seinem Namen nach ein Anagramm von ‚Michael Maier‘ – behauptet.

Didier Kahn (Paris) zeichnete in seinem Vortrag die Rezeption der Alchemischen Messe um 1600 nach. Im 15. Jahrhundert diente die ‚Messe‘ als literarisches Genre und konnte verschiedene Themen behandeln, ohne notwendigerweise zu einer bestimmten Liturgie zugehörig zu sein. Mit der Reformation verlor das Genre der ‚Messe‘ seine literarische Freiheit und wurde an seine religiöse Funktion rückgebunden. Wie Kahn darlegte, zieht Maier es vor, die Alchemische Messe – die er insgesamt sehr schätzt – in den Symbola aureae mensae (1617) nur unter Auslassung bestimmter Passagen zu veröffentlichen, um diesen Text nicht aufgrund seiner christologischen Implikationen dem Missbrauch der Paracelsisten auszuliefern. Konkret wirft er diesen ‚falschen Alchemikern‘ vor, die Artikel des christlichen Glaubens zu entweihen und so auf unzulässige Weise zu verdunkeln. Demgegenüber, so Kahn, sieht Maier die Zeugung des Steins der Weisen als ein dezidiert weltliches Unterfangen an. Sofern er hierbei dennoch auf die Auferstehung zu sprechen kommt, hat er stets die Ähnlichkeit – nicht die genuine Übereinstimmung – des Großen Werks mit dem biblisch bezeugten Heilsgeschehen im Blick.

Bruce T. Moran (Nevada) beleuchtete die von Joachim Tanckius (1557–1609) verfassten Vorreden zu Werken (al)chemischen Inhalts. Dabei zeigte er auf, dass die naturphilosophischen Themen und Gefühle, die Tanckius hierin auf poetisch-literarische Weise verarbeitet, auf eine vom Glauben geprägte Realität zusteuern. Die Vorreden enthalten das Bekenntnis zu einer inneren Natur der Dinge, deren universales Erkenntnispotenzial seinen Ausdruck in rhetorischem Pathos und der Narration findet. Die dabei zur Sprache kommenden Glaubens- und Wissensobjekte sind synergetisch auf die Zusicherung des intellektuellen und (al)chemisch-medizinischen Werts der nachfolgenden Ausführungen angelegt. Tanckius’ religiöse Gefühle sind somit nie vom Wissen getrennt. Durch die poetische Gestaltung seiner Vorreden verbindet Tanckius einerseits den Intellekt mit dem praktischen Nutzen, andererseits seine Empfindungen mit dem unerschütterlichen Glauben an die Wirksamkeit verborgener Kräfte und Sympathien innerhalb der Natur.

Tobias Bulang (Heidelberg) präsentierte in seinem Vortrag die Editionsgeschichte und den Wissenskontext der pseudoparacelischen Aurora Philosophorum, die er im Rahmen eines Editionsprojektes untersucht hat. Im Kern beinhaltet die Aurora eine Heilsgeschichte des Großen Werks und eine Kanonisierung des Sakralen. Der Erzähler dieser Heilsgeschichte, der sich als ein vom göttlichen Geist erleuchteter Adept zu erkennen gibt, geht hierbei von der tristen Bilanz aus, dass die paradiesische Weisheit Adams nach dem Sündenfall mit fortlaufender Tradierung und häretischer Vereinnahmung depraviert ist. Gleichwohl beansprucht er für sich einen Zugang zu dieser ursprünglichen Weisheit, welche das Wissen um das Große Werk beinhaltet; dies vor dem Hintergrund einer Naturphilosophie, der zufolge die Schöpfung vom göttlichen Geist erfüllt und daher mit übernatürlichen Kräften ausgestattet ist. In Synthese mit christlicher Allegorese transformiert die Aurora paganes, größtenteils transmutationsalchemisches Wissen und integriert dieses in ein genuin christliches Welt- und Geschichtsverständnis sowie in die Sakralsprache. In späteren Ausgaben ist festzustellen, dass eine Kürzung der spirituellen und literarischen Passagen zugunsten der praktisch-technischen Inhalte erfolgte.

Philipp Hegel (Darmstadt) zeigte in seinem Vortrag auf, wie die Digital Humanities zur Unterstützung von Simon Brandls Editionsprojekt zur Atalanta fugiens einen wertvollen Beitrag leisten können. So können (al)chemische Fachtermini, die in frühneuzeitlichen Werken wie der Atalanta polysemantisch verwendet werden und so das darin enthaltene laborpraktische Wissen verschleiern, mithilfe digitaler Verfahren wie wissenshistorischen Kommentaren und kontrollierten Vokabularien in ihrer jeweiligen Bedeutung dokumentiert und algorithmisch ausgewertet werden. Um der Komplexität des Textes gerecht zu werden, wählt Hegel im Falle des Vokabulars, das er in Zusammenarbeit mit Brandl für die Atalanta entwickelt, ein induktives Vorgehen. Jenes Vokabularium soll nach Abschluss des Projekts eine analytisch-explorative Erschließung des Werks ermöglichen.

Im letzten Vortrag der Tagung stellte Volkhard Wels (Berlin) Michael Maiers Allegoria bella (1617, Teil des zwölften Buchs der Symbola) vor. Bei dieser handelt es sich um den Bericht eines Ich-Erzählers, der sich auf eine mehrjährige Suche nach dem Phönix macht, die ihn durch die vier Kontinente der Alten Welt führt. Die Reiseerzählung erfolgt in Form einer Aneinanderreihung von Episoden, integriert hierbei zahlreiche Mythologeme und endet mit dem Kuriosum, dass der Erzähler, sowie am Wohnort des Phönix angekommen, feststellen muss, dass dieser gerade ausgeflogen ist. Vor diesem Hintergrund gelangt Wels zu dem Befund, dass Maier die vermeintlich allegorische Funktion der antiken Mythen zwar nicht bestreitet, sich aber deren interpretatorische Offenheit zunutze macht, um sie in ein ingeniöses Spiel einzubetten. Dieses zielt darauf, den Mythen nachträglich einen (al)chemischen, moralischen oder politischen Sinn einzuschreiben. Jener Sinn könne aber auch, wie im Falle der Phönix-Allegorie völlig offenbleiben und auf diese Weise eine ‚scherzhafte Weisheit‘ geltend machen.