(Nicht)Wissen – Dynamiken der Negation in vormodernen Kulturen
7. Jahrestagung des Sonderforschungsbereichs 980 „Episteme in Bewegung“, konzipiert und organisiert von der Konzeptgruppe V „Transfer und Negation“ (Leitung: Şirin Dadaş u. Christian Vogel), 27.−29.06.2019
Bericht von Christine Salazar und Ingo Schrakamp
Die diesjährige Tagung thematisierte das Verhältnis von Wissen, Transfer und Negation in europäischen und nicht-europäischen Kulturen der Vormoderne. Das Erkenntnisinteresse richtete sich hierbei auf die Rolle der Negation als Impuls im Wissenstransfer und damit auf alle jene Prozesse der Ausblendung, der Zerstörung oder des Verbergens, denen kreative Potenziale innewohnen. Zugleich wird Negation auch als Bestandteil eines bestimmten Wissensmodus verstanden, der an verneinende, widersprüchliche oder elliptische Darstellungsweisen gebunden ist.
Nach der Begrüßung und Einführung durch Andrew James Johnston eröffneten Şirin Dadaş und Christian Vogel die Tagung mit dem Vortrag „Verneinen, Vergessen, Überschreiben, Überschreiten – Dynamiken der Negation im Wissenstransfer“. Anhand der vier Begriffe Verneinen, Vergessen, Überschreiben und Überschreiten boten die Referent*Innen eine Neuperspektivierung auf Bewegungen epistemischen Wissens, die für die Tagung leitend war. Diese Neuperspektivierung begreift Negation nicht nur im Sinne von Verlust, sondern konzeptualisiert sie als einen stets mitzudenkenden Bestandteil von Transfer, der in unterschiedlichen Nuancierungen zu beobachten ist. Damit präsentierten die Referent*Innen eine Perspektive, die nicht nur den vielfältigen kreativen Potenzialen von Wissensbewegungen Rechnung trägt, sondern gleichzeitig Wissensbewegungen und Wissensmodi zu beschreiben hilft, die sich bisherigen wissensgeschichtlichen Konzepten entziehen. Als heuristisches Instrument wissensgeschichtlicher Forschungen besitzt dieses Konzept einen hohen Stellenwert.
Anschließend präsentierte die erste Gastsprecherin, Christiane Schildknecht, Professorin für Philosophie an der Universität Luzern, ihren Vortrag „’Zwei Stämme der Erkenntnis’. Zur Bestimmung von Wissen via negationis aus epistemologischer Sicht”. Sie zeigte, dass Wissen nicht nur durch Negation von Nicht-Wissen abgegrenzt wird, sondern dass auch innerhalb des Wissensbegriffs selbst via negationis zwischen propositionalem und nicht-propositionalem Wissen unterschieden werden kann. Die Referentin wies darauf hin, dass beispielsweise das Deutsche propositionales Wissen als Wissen und nicht-propositionales Wissen als Erkenntnis begrifflich voneinander unterscheidet, während andere Sprachen wie das Englische und das Altgriechische mit knowledge und epistēmē keine derartige Differenzierung auf Wortebene kennen. Davon ausgehend erörterte Christiane Schildknecht Spezifika der Aus- und Abgrenzung des Nicht-Propositionalen und diskutierte vor dem Hintergrund der Differenz zwischen Begrifflichkeit und Anschaulichkeit insbesondere Formen der Negation von Begrifflichkeit, wie sie bereits in der Antike und Frühen Neuzeit auftreten. Mit Fokus auf Platon, Aristoteles, Descartes und der rationalistischen Epistemologie galt es zu bestimmen, inwieweit die kategoriale Negation jeweils konstitutiv für nicht-propositionale Formen des Erkennens sowie für den Transfer zwischen Logik und Rhetorik ist.
Im Anschluss ging Jutta Eming, Professorin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin / SFB 980, in ihrem Vortrag „Zum Geheimnis im höfischen Roman des Mittelalters“ der Frage nach, welche Implikationen Inszenierungen des Geheimnisvollen und Wunderbaren für das Konzept von Episteme haben. Anhand von Fallbeispielen aus Diu Crône und Wigalois erläuterte die Referentin den Motiv- und Erzählzusammenhang des Wunderbaren und Geheimnisvollen, erörterte die epistemische Valenz dieser Erzählweisen und diskutierte, wie sich die Relation von Geheimnis und Wissen auf den Ebenen des negativen Transfers und des Nicht-Wissens fassen lassen. Jutta Eming bestimmte das Prinzip des Vorenthaltens von Wissen und scheinbar widersprüchliche Dynamiken von Verbergen und Enthüllen als zentrale Charakteristika einer Erzählstrategie, die das Wunderbare und Geheimnisvolle über seine Materialität, Dramatik und Performanz sinnlich erfahrbar macht und dadurch epistemische Prozesse in Gang setzt. Diese Prozesse entziehen sich zwar der Dichotomie von Wissen versus Nicht-Wissen, sind aber als unterschiedliche Nuancierungen von negativem Transfer beschreibbar.
Hanna Liss, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg / SFB 933, fokussierte in ihrem Vortrag „Negation or Transformation? Illustrative Dissolutions of Masoretic Lists in Medieval Hebrew Bible Manuscripts” das Verhältnis zwischen ikonographischem Programm und semantischem Inhalt masoretischer Listen und nahm die biblische Masora, die gleichsam einen Hypertext mit linguistischer und semantischer Information zur hebräischen Bibel darstellt, sowie die seit dem 9. Jahrhundert bezeugten, kompletten masoretischen Bibeln in den Blick. Sie zeigte, dass masoretische Listen ihre Inhalte nicht in Listenform, sondern als dekorative Elemente organisieren und aus dem dann kaum mehr lesbaren Text Drachen, Ritter und andere Figuren bilden. Die Referentin diskutierte, warum sich Schreiber der Listenform verweigerten, und wie und warum das Listenmaterial in bildliche Darstellungen transformiert wurde.
Am Vormittag des zweiten Veranstaltungstages standen drei Workshops in Parallelsektionen zur Auswahl, in denen SFB-Mitarbeiter*Innen das Thema der Jahrestagung gemeinsam mit geladenen Gästen vertieften.
Workshop 1 „Negation ↔ Variation: Das kreative Potential negativer Transferprozesse”, wurde von Sophie Buddenhagen, Julia Levenson und Stephan Hartlepp organisiert. Beitragende waren Hartmut Böhme, Ricarda Gäbel, Jan-Peer Hartmann, Hanna Liss, Ingo Schrakamp, Hanna Zoe Trauer und Volkhard Wels. Workshop 2 „Staging Negation – Staging Unknowledge“ wurde von Isabelle Fellner und Matthias Grandl organisiert und lieferte Beiträge von Christiane Schildknecht und Déborah Blocker. Der von Marie-Christin Barleben, Almut Bockisch, Simon Brandl und Dorothee Elm von der Osten organisierte Workshop 3 „Negative Theologie. Gottesbeschreibung zwischen Wissen und Nichtwissen“ bot Beiträge von Emiliano Fiori und Blossom Stefaniw.
Nach der Mittagspause folgten auf die Workshops wieder Einzelvorträge im Plenum. Blossom Stefaniw von der Theologischen Fakultät der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg hatte einen Vortrag über den Grammatiker Didymus den Blinden (4. Jahrhundert) als Beispiel des Wissenstransfers in der Spätantike angekündigt. Im Gegensatz zu anderen Grammatikern, die ihre Beispiele Homer, Hesiod oder Menander entnahmen, experimentierte Didymus mit Psalmen und Kohelet. Da die Referentin bereits im Workshop 3 auf diese Thematik eingegangen war, entschied sie sich kurzfristig für einen anderen Beitrag und präsentierte in impressionistischer Weise die Methode des Didymus, angewandt auf Erinnerungen.
Melanie Möller, Professorin für Latinistik an der Freien Universität Berlin / SFB 980, behandelte in ihrem Vortrag „(Ver)Fall, (Ver)Lust, (Ver)Weigerung: Epistemische Anekdoten in Suetons viri illustres“ mit der Biographie und der Anekdote zwei eng verwandte Textgenres, die historische Wissensbestände isolieren, bisweilen zu einer Textgattung zusammenwachsen, aber aufgrund der Nähe zwischen Geschichte und Lebensführung der viri Skepsis hinsichtlich ihres epistemischen Grades wecken. Die Referentin identifizierte die Anekdote als narratives Element, das Wissen um Leben und Wirken römischer Philologen, Dichter und Redner in Wissensbausteinen isoliert und sprachlich pointiert abbildet. Sie bestimmte Techniken der Selektion und Negation von Wissensbeständen wie Verfremdung, Verkürzung, Ausblendung und Auslassung als typische Mittel der Untermauerung von Geltungsansprüchen, fasste die Anekdote damit als ein Textgenre, das die dynamischen Aspekte negativen Transfers beispielhaft veranschaulicht, und betrachtete Suetons Viten als einen gattungsmäßigen Musterfall.
Eun-Jeung Lee, Professorin für Koreanistik an der Freien Universität Berlin / SFB 980, ging in ihrem Vortrag „Zwischen Himmel und Universum. Selektion von westlichem Wissen im Korea des 18. Jahrhunderts“ der Frage nach, wie christlich geprägtes, durch jesuitische Missionare über China vermitteltes Wissen um Astronomie und Kalenderkunde im Kontext konfuzianischer Akademien im Korea des 18. Jahrhunderts durch den Gelehrten Yi Ik rezipiert wurde. Eun-Jeung Lee skizzierte zunächst den historischen Rahmen dieser Wissensbewegungen und stellte anschließend die herausragende Rolle des konfuzianischen Gelehrten Yi Ik im Verlauf dieses Prozesses dar. Die Referentin verdeutlichte, dass Yi Ik westliche Wissensbestände einem bewussten und tiefgreifenden Selektionsprozess unterzog, der im Widerspruch zur konfuzianischen Lehre stehende Konzepte wie den christlichen Gottesbegriff als irrational ablehnte, technisches Wissen um Astronomie, Mathematik und Geographie aber im Rahmen konfuzianischer Geltungsansprüche akzeptierte. Indem Eun-Jeung Lee darauf hinwies, dass die Grenzen zwischen Negation und Rezeption im Verlauf dieser Wissensbewegungen kaum je eindeutig beschreibbar sind, verdeutlichte ihr Vortrag das heuristische Potenzial des Konzepts negativen Transfers zur Beschreibung von Wissensbewegungen.
Hartmut Böhme, Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, ging in seinem Vortrag „Kreative Zerstörung? Fragmentierung und Ruinierung als Herausforderung historischer (Re-)Integration“ sowohl theoretischen Fragen zum Konzept kreativer Zerstörung als auch den materiellen Aspekten von Zerstörungsprozessen nach. Anhand antiker bis moderner Fallbeispiele zeigte der Referent, dass antike Kulturen schon immer Objekt von Zerstörungsprozessen waren. Er legte dar, dass sich manche Wissenschaftszweige genuin mit dem Fragmentarischen und seiner Reintegration befassen, die Altertumswissenschaften aber am radikalsten mit Zerstörungsprozessen konfrontiert sind, da sie Geschichte aus zerstörten Quellen rekonstruieren. Dabei führte er aus, dass Fragmentierung nicht nur negativ ist (wie beispielsweise das Niederbrennen einer Bibliothek), sondern auch kreative Dynamiken der Wissenserzeugung begünstigen kann.
Claudia Tiersch, Professorin für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin, nahm in ihrem Vortrag „Sokrates und die epistemische Negation gesellschaftlicher Konvention – Bedrohung oder Impuls für die politische Ordnung Athens?“ die Vielschichtigkeit epistemischer Umbrüche am Fallbeispiel des Sokrates im demokratischen Athen in den Blick. Ausgehend von der These, dass epistemische Umbrüche oftmals mit tiefgreifenden historischen Umbrüchen einhergehen, diskutierte sie zunächst die von Sokrates als Instrument der Generierung bzw. Negation von Wissen angewandte Methode der Maieutik, die sich durch dialogisches Hinterfragen und Infragestellen von Konventionen auszeichnete, und erörterte anschließend die unterschiedlich positiven und negativen Urteile der athenischen Gesellschaft über Sokrates. Der Versuch einer Verortung von Wirken und Wirkung der sokratischen Praxis in ihren gesellschaftlichen und historischen Kontexten ergab, dass die ambivalente Beurteilung durch seine Zeitgenossen und die posthume Rehabilitierung aus einer Wechselwirkung epistemischer und historischer Umbrüche am Übergang von Aristokratie zu Demokratie resultierten.
Ricarda Gäbel, Humboldt-Universität Berlin / SFB 980 stellte in ihrem Vortrag „Galen oder nicht Galen, das ist hier die Frage! – Ausschluss, Ablehnung und Annahme von Wissen in den medizinischen Enzyklopädien der Spätantike“ die Überlieferung des Oribasius von Pergamon, des Aetius von Amida und des Paulus von Aegina in den Fokus. Während diese Enzyklopädien in der bisherigen Forschung oft als bloße Repositorien von Wissensbeständen („refrigerators of antiquity“) betrachtet wurden, nahm Ricarda Gäbel die Enzyklopädien als eigenständige literarische Werke in den Blick und legte den Fokus auf ihre kreativen Potenziale. Anhand von Beispielen zeigte die Referentin, dass die spätantiken Kompilatoren überlieferte Bestände epistemischen Wissens aus dem Bereich der antiken Medizin nicht nur reproduzierten, sondern durch vielfältige Techniken von Selektion und Negation wie Systematisierung, Kürzung, Überschreibung, Ergänzung und Neukontextualisierung „in Bewegung“ hielten. Daher klassifizierte die Referentin die spätantiken medizinischen Enzyklopädien als eigenständige literarische Werke, die aus dem kreativen Umgang mit epistemischen Beständen resultierten.
Die Literatur- und Sozialhistorikerin Déborah Blocker, University of California Berkeley, thematisierte in ihrem Vortrag „Establishing a Poetics of Theater in France under Cardinal Richelieu: on the Social and Political Dynamics of an Emerging ‘Unknowledge’” die Entwicklung einer Poetik des Theaters in Frankreich unter Kardinal Richelieu zwischen 1630 und 1657. Sie legte dar, dass der Kardinal gezielt Texte über die Bühnenkunst wie Besprechungen einzelner Theaterstücke und Abhandlungen zur Poetik publizieren ließ, die sich an eine kleine Elite wohlhabender Leser richteten und daher einen leichteren Zugang gewährten als aristotelische Schriften oder Aristoteles-Kommentare. Die wissenschaftlich gebildeten Verfasser gehörten einem gehobenen bürgerlichen Milieu von Ärzten, Rechtsanwälten u.ä. an, waren jedoch auf die Protektion Richelieus angewiesen. Obwohl diese Texte normative Ideen vom Theater zur Regelung der Produktion und Rezeption vermittelten und sich manche dieser Normen aus der im 16. Jahrhundert in Italien entwickelten gelehrten Poetik herleiteten, sahen sich ihre Verfasser nicht als Gelehrte und präsentierten ihre „Regeln“ nicht als Theorie, sondern als Ergebnisse der Praxis. Der Vortrag untersuchte soziale und politische Dynamiken dieser Gesten der Leugnung und ihre Rolle bei der Herausbildung und Legitimierung einer Form von „Unwissen“.
Ulrike Schneider, Professorin für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin / SFB 980, nahm in ihrem Vortrag „(Nicht-)Wissen? Relevanz und Modalitäten elusiven Wissens in vormoderner Ästhetik“ am Beispiel von Agnolo Firenzuolas Dialogo delle belleze delle donne Wissensformen frühneuzeitlicher Ästhetikdiskurse in den Blick. Anhand von Begriffen wie leggiadria und grazia wies die Referentin Formen epistemischen Wissens nach, die sich zwar durch einen klaren Geltungsanspruch auszeichnen, aber nicht rational erfassbar sind, sondern unbestimmt bleiben, sich in einem diskursiven Umkreisen manifestieren und lediglich sinnlich erfahrbar werden und daher als eine Form elusiven Wissens bezeichnet werden können. Die Referentin zeigte, dass diese Wissensformen wie ein Wissen um das Wunderbare oder auch ein in Anekdoten gefasstes Wissen an eine spezifische mediale Verfasstheit gebunden sind, sprachlich operationalisierbar gemacht werden und als Diskursgenerator fungieren. Damit postulierte Ulrike Schneider elusives Wissen als eine dritte Kategorie von Wissen neben knowing that und knowing how.