Sprachliches Wissen im Wandel: grammatisch, pragmatisch, didaktisch
Workshop des germanistischen Teilprojektes C08 „Vermittlung kommunikativer Alltagsroutinen im Kontext sprachlicher Diversität in der frühen Neuzeit“ (Leitung: Prof. Dr. Horst Simon), 07.07.2017
23.10.2018
Bericht von Linda Gennies
Der eintägige Workshop bot den Doktoranden des Arbeitsbereichs „Historische Linguistik“ der Freien Universität Berlin sowie weiteren Interessierten die Möglichkeit eines intensiven Austauschs über inhaltliche und methodische Probleme bei der Bearbeitungen unterschiedlicher Fragestellungen der Sprachgeschichte des Deutschen. Der SFB 980 stellte dabei nicht nur den physischen Diskussionsort, sondern auch den theoretisch-methodischen Diskussionsrahmen zur Verfügung, indem der Fokus des Workshops nicht einfach auf systemimmanente Wandeltendenzen, sondern auf sprachlichen Wandel als Folge von Transfer- und Neukontextualisierungsprozessen – z.B. im Zusammenhang mit Migration und Sprachkontakt – gesetzt wurde. Es galt, sprachimmanente Zwänge, die Wandelprozesse sowohl stützen als auch erschweren oder verhindern können, dem kreativen Potential des Transfers sprachlicher Wissensbestände gegenüberzustellen. Sprachliche Wissensbewegungen in unterschiedlichen regionalen und vor allem historischen Varietäten des Deutschen wurden dabei mit Blick auf die in ihnen wirksamen Akteure und Mechanismen auf grammatischer, pragmatischer, didaktischer, normativer und sprachtheoretischer Ebene eingehend betrachtet und diskutiert.
Christian Forche (Universität Bonn) gab den Auftakt mit einem Vortrag zu seinem Dissertationsprojekt, in dem er sich mit der Entwicklung und grammatische Stellung von NonV2-Verben im Deutschen befasst. Im Anschluss an die Beschreibung der Faktoren, die in der bisherigen Forschungsliteratur für die untersuchte Stellungsrestriktion verantwortlich gemacht werden, sowie der Diskussion ihrer Operationalisier- und Kodierbarkeit für eine logistische Regressionsanalyse stellte er dabei erste Überlegungen zu einer Erklärung des Phänomens mittels eines gebrauchsbasierten Modells an. Besonders vielversprechend erschien dabei die Idee, zumindest einige der betreffenden Verben als Neu- bzw. „Noch-keine-Verben“ zu analysieren, da diese beim Transfer aus der Gruppe der Substantive oder Adjektive in neue Gebrauchskontexte nur einzelne verbale Merkmale anzunehmen schienen, während gleichzeitig viele Merkmale ihrer Ursprungskategorie erhalten blieben, die eine prototypisch verbale Verwendung verhinderten.
Henning Radke (Universiteit van Amsterdam) widmete sich anschließend in seinem Vortrag zur medialen Verwendung des Namdeutschen einem Teilaspekt seines Dissertationsprojekts zur Vitalität und Entwicklung des Deutschen in Namibia. Im Anschluss an einen kurzen Überblick über die namibische Kolonialgeschichte und die historische Verbreitung des Afrikaansen und des Deutschen in dem Land diskutierte er dabei verschiedene Beispiele der kreativen Verwendung afrikaansen und englischen Sprachmaterials in der namdeutschen Varietät. Im Fokus stand hierbei insbesondere die Frage nach der Integration fremdsprachiger Elemente in deutsche Satzstrukturen sowie möglicher stilistisch-expressiver Funktionserweiterungen. Abschließend wurde eine erste Stichprobe metasprachlicher Kommentare zur Entwicklung und Bedeutung des Namdeutschen für die Sprachgemeinschaft ausgewertet, bei dem neben sprachpuristischen Tendenzen vor allem die identitätsstiftende Funktion der Varietät deutlich wurde.
Beijia Chen (FU Berlin) nahm bei der Vorstellung ihres Promotionsprojekts zum „Wandel der Sprachtheorie und Sprachwissenschaft in Deutschland um 1900“ eine wissenschaftsgeschichtliche Perspektive ein. Anhand einer Analyse sprachtheoretischer, zwischen 1880 und 1920 veröffentlichter Zeitschriftenartikel zielt sie auf eine tiefergehende, auch quantitative Beschreibung des linguistischen Feldes in Deutschland um die Jahrhundertwende, die im Gegensatz zu den bisherigen, eher personenbezogenen oder aber wenig detaillierten Überblicksdarstellungen insbesondere auch die Erklärung von Transfer- und Wandelprozessen in der zeitgenössischen Sprachwissenschaftstheorie anstrebt. Der Beitrag diskutierte anhand konkreter Versuchsproben die methodischen Schwierigkeiten einer netzwerktheoretischen Analyse, die die Heterogenität begriffsgeschichtlicher (Dis‑)Kontinuitäten und Querverbindungen nur teilweise abzubilden vermag.
Prof. Antje Dammel (Universität Münster), die in erster Linie als ausgewiesene Expertin für Variation und Wandel in der Sprachgeschichte des Deutschen geladen war, leitete die zweite Hälfte des Workshops mit einem Impulsreferat zur theoretischen und geschichtlichen Einordnung der Historischen Pragmatik in das Feld der Pragmalinguistik ein. Dabei ging sie auf wesentliche Probleme des Forschungsfeldes ein, die neben der mangelhaften Verfügbarkeit geeigneter und authentischer Quellen insbesondere die nur bruchstückhaft bekannten zeitspezifischen Kommunikationsbedingungen historischer Texte betreffen. Neben diesem historisch-synchronen Standpunkt nahm Antje Dammel in der anschließenden Diskussion des Wandels pragmatischer Einheiten einerseits sowie von Pragmatik als Faktor von Sprachwandelprozessen andererseits aber auch eine stärke diachrone Perspektive ein, die deutliche Überschneidungen mit dem vom SFB geprägten Ansatz aufwies und sich als zentral für die Arbeit des Teilprojekts C08 herausstellte.
In den folgenden zwei Beiträgen wurden die Arbeit des Teilprojektes C08 vorgestellt und methodische Probleme bei der Erstellung und Analyse des Korpus frühneuzeitlicher Fremdsprachenlehrwerke diskutiert, das im Zentrum der Projektarbeit steht. Im Vortrag von Linda Gennies (FU Berlin) ging es dabei zunächst um die zweifelhafte Stabilität der untersuchten Texte einerseits, die sich durch eine nahezu identische Neuauflage bestimmter Werke über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten darstellt, was auf einen Transfer sprachlich-didaktischen Wissens ohne dessen Neukontextualisierung vor dem Hintergrund eines möglichst schnellen und gewinnbringenden Vertriebs dieser stark nachgefragten Texte hinweist. Andererseits wurden in dem Beitrag gewisse textuelle Veränderungen nicht als authentische Neukontextualisierungen, sondern als das Resultat lücken- und fehlerhafter Transferprozesse identifiziert, die auf mangelnde Sprachkenntnisse der betreffenden Autoren, Lektoren und Setzer zurückzuführen sind. Julia Hübner (FU Berlin) betrachtete das Material anschließend vor dem Hintergrund der sich in dieser Zeit herausbildenden Sprachnorm des Deutschen. Hierbei diskutierte sie die theoretisch-methodischen Herausforderungen, die sich bei der Untersuchung des Spannungsverhältnisses von Norm und Variation sowie von Normierung und didaktischer Vermittlung ergeben.
Der Vortrag von Sebastian Lauschus (FU Berlin), in welchem er sein mit dem Teilprojekt C08 assoziiertes Dissertationsprojekt zur „Geschichte der Aussprachelehre in der Frühen Neuzeit“ vorstellte, bildete den Abschluss des Workshops. Neben einer kurzen Erläuterung des Forschungsvorhabens und des aktuellen Forschungsstands wurden dabei insbesondere einige der in der Anfangsphase des Projekts aufgetretenen Fragestellungen und Probleme diskutiert. So ging es etwa um die Frage, welchen Einfluss die Muttersprache eines Autors auf die Auswahl und Darstellung von Graphem-Phonem-Beziehungen oder auf die artikulatorische Beschreibung bestimmter Laute in der Zielsprache hat – inwiefern phonetisch-phonologisches Wissen also im und für den didaktischen Transfer rekontextualisiert und also auch verändert wurde. Nicht zuletzt trat dabei die Frage nach den Transferlücken in den Vordergrund, also bewusst oder unbewusst ausgelassene Wissensbestände, welche Hinweise auf die Sprachkenntnisse, Sprachwahrnehmungen und das metasprachliche Bewusstsein der Lehrwerksautoren enthalten.