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Marsilio Ficino in Deutschland und Italien. Renaissance-Magie zwischen Wissenschaft und Literatur

Internationale und interdisziplinäre Tagung organisiert vom Teilprojekt B02 „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“ (Leitung: J. Eming) in Koop. mit M. Dallapiazza (Universität Bologna), 01.–03.10.2015

07.01.2016

Marsilio Ficino

Marsilio Ficino

Tagungsbericht von Jutta Eming, Falk Quenstedt und Tilo Renz

Gegenstand der internationalen und interdisziplinären Tagung, die vom Teilprojekt B02 über „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“ in Kooperation mit Michael Dallapiazza von der Universität Bologna veranstaltet wurde, war das Werk des Florentiner Humanisten Marsilio Ficino in wissenschafts- und wissensgeschichtlicher Perspektive. Ficino ist als Übersetzer und Kommentator der Schriften Platons, Plotins und des Corpus Hermeticum, als Theoretiker der Verknüpfung antiker Lehren mit christlichen Denktraditionen sowie als Akteur der Gelehrten- und Literaten-Netzwerke seiner Zeit eine zentrale Figur des Renaissance-Humanismus. Ziel der Tagung war es, die Ficino traditionell zugeschriebene Schlüsselrolle in der europäischen Wissenschafts- und Geistesgeschichte in zentralen Punkten zu überprüfen, zu diskutieren und zu präzisieren. Dabei wurden zum einen Fragen nach der Verflechtung von Denktraditionen, Wissensformen und Schreibweisen, zum anderen Fragen nach räumlichen und zeitlichen Transfers ficinianischer Werke und Ideen gestellt. Vor allem Passagen in Ficinos Schriften zur Magie und Prozesse ihrer Rezeption weisen in verdichteter Form viele Aspekte auf, die für die Erörterung der angesprochenen Fragehorizonte aufschlussreich sind.

Die grundlegenden Fragestellungen leiteten zu weitergehenden Problemfeldern über, die im Verlauf der Tagung wiederholt diskutiert wurden, etwa zur Frage nach dem Status der Wissenschaften im 15., 16. und 17. Jahrhundert oder zur Herausforderung, eine Beschreibungssprache zu finden, die den theoretisierenden Schriften dieser Zeit angemessen ist. Epistemische Darstellungsformen der Frühen Neuzeit verbinden in moderner Perspektive disparat erscheinende – ‚literarische‘ und ‚wissenschaftliche‘ – Schreibweisen miteinander, was während der Tagung insbesondere am Beispiel von Untersuchungen der ästhetischen Implikationen und poetischen Verfasstheit von Ficinos Werken zu Debatten um das Verhältnis von Episteme und Wissenschaft führte. Auch die Fragen nach den Denktraditionen, in denen Ficino gestanden hat, sowie nach dem Einfluss, der von seinen Schriften ausgegangen ist, ließen das Problem virulent werden, das sich abstrakter formuliert als Konzeptualisierung der Formen und Verläufe der entsprechenden Transferprozesse bezeichnen lässt. Der Vergleich verschiedener historischer Transfers ficinianischer Vorstellungen, Konzepte und Werke in unterschiedliche epistemische und institutionelle Kontexte, Volks- und Gelehrtensprachen sowie Praxiszusammenhänge machte die Diversität und Spezifität solcher Prozesse anschaulich. Neben den Nachvollzug klar nachweisbarer und somit evidenter Transfers traten Rekonstruktionen von Transfers, die Dimensionen partieller Negation aufweisen, mit Camouflage und Unterschlagung einhergehen und unter dieser Voraussetzung (im Sinne eines ‚illegitimen oder gefährlichen Wissens‘) Wirkungen entfalten konnten oder auch (als ein ‚prekäres‘, d.h. nach Martin Mulsow in seinem Bestand gefährdetes Wissen) zunächst noch Formen der Rezeption anstießen, die dann abrupt endeten oder ‚im Sande verliefen‘. Während der Tagung wurde zum Beispiel diskutiert, dass Ficinos Theorie des Enthusiasmus oder furor poeticus, welche die Grundlage für eine theoretische Ausarbeitung literarischer Produktivität bildet, in Deutschland relativ früh rezipiert wird, im protestantischen Raum jedoch bald abzubrechen scheint (was mit den theologischen Vorgaben Luthers zu tun haben dürfte). In Frankreich setzt dagegen die Rezeption Ficinos um 1518 insbesondere mit der Dichtergruppe der Pléiade und deren Enthusiasmus-Theorie verstärkt ein. Es wurde deshalb erörtert, ob Ficinos Wirken im Zuge der Reformation durch ‚negative Transfers‘ einerseits einschneidend unterbrochen, andererseits in neuen Kontexten – etwa durch Formen der Parodie – fortgesetzt wurde. Eine ganze Reihe von Beiträgen machte deutlich, dass Ficino in bestimmten historischen Diskurszusammenhängen präsent ist, ohne zugleich namentlich benannt zu werden, aus Gründen, welche für die verschiedenen Kontexte wiederum eigens zu ermitteln und zu reflektieren sind. Es ging also auch darum, Kontinuitäten, Verläufe und mögliche Logiken der Transferbewegungen von Wissen genauer abzubilden als es bislang mit der vielfach sehr allgemein konstatierten ‚europäische Rezeption‘ der Arbeiten Ficinos geschieht. Für die Diskussion der Transferprozesse erwies sich der interdisziplinäre und internationale Zuschnitt der Tagung als besonders produktiv: Fachvertreterinnen und -vertreter der Philosophie, Literaturwissenschaften und Wissenschaftsgeschichte aus Italien, Frankreich und dem deutschsprachigen Raum kamen miteinander ins Gespräch.

In der europäischen Ficino-Forschung wird schon seit längerem in wichtigen Einzelfragen auf die Notwendigkeit einer Überprüfung bekannter Forschungsthesen zu seinem Wirken hingewiesen. Der sogenannte Paracelsismus zum Beispiel wurde zwar mehrfach als eine Form von modifiziertem Neuplatonismus dargestellt, die spezifische Ausgestaltung jedoch weist nur wenige Übereinstimmungen auf. Auch die von der Forschung traditionell angenommene zentrale Rolle Ficinos für den Cambridger Platonismus ist wohl nicht durch Quellen zu verifizieren. Der Begriff der ‚platonischen Liebe‘ wiederum wurde auf Grund einer Kontroverse, die im 16. Jahrhundert insbesondere in Italien einsetzte, von Ficinos Nachfolgern einer entscheidenden Präzisierung unterzogen, die neuplatonische Theologie Ficinos von Johannes Reuchlin kabbalistisch reformuliert.

Richtet man den Blick ferner nicht nur auf die Wissenstransfers, die Ficino angestoßen hat, sondern auch auf jene, von denen er selbst profitierte, kommen ebenfalls neue epistemische Bewegungen in den Blick. Ein besonderes Augenmerk lag während der Tagung auf Ficinos Verhältnis zu mittelalterlichen Traditionen, die im Vergleich zu den Antike-Bezügen bislang noch weniger erforscht sind: Fragmente des Corpus Hermeticum etwa geraten durch arabisch-spanische Vermittlung in einer als Asclepius bekannten Fassung im Mittelalter in Umlauf und werden in Kathedralschulen und Universitäten rezipiert; Einflüsse lassen sich bis in die deutsche Literatur des Mittelalters nachweisen (Parzival). Ficino hat sie vermutlich ebenso gekannt wie das berühmteste Buch über Zauberei des Mittelalters, den Picatrix. Die seitens der Alchemiegeschichtsschreibung vertretene Sichtweise, dass Ficinos Übersetzung als ‚Initialzündung‘ gewirkt hat, ist deshalb eventuell zu relativieren. Bereits im 12./13. Jahrhundert wird in verschiedenen literarischen Diskursen eine magische Disposition des Einzelnen hinsichtlich seines Potentials reflektiert, Kunstwerke zu erschaffen; daraus lassen sich Ansätze zu einer Kunsttheorie ableiten. Der Transfer von magischen (und religiösen) zu ästhetischen Formen setzt also nicht erst mit Ficino ein, was in erster Linie ein wichtiges Beispiel für die Kontinuität zwischen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen intellektuellen und ästhetischen Traditionen bietet, die in der Renaissanceforschung zunehmend geltend gemacht wird.

 Die Tagung begann mit dem Grußwort des Präsidenten der Freien Universität Berlin, Peter-André Alt, und einer Einführung in die Thematik des Sonderforschungsbereichs 980 ‚Episteme in Bewegung‘ durch dessen Sprecherin Gyburg Uhlmann. Anschließend leitete die Leiterin des Teilprojekts B02, Jutta Eming, in das Tagungsthema ein; die zentralen Fragestellungen der Tagung, die sie formulierte, wurden bereits genannt. Insbesondere erläuterte Jutta Eming die Relevanz Ficinos für die mediävistische Germanistik und den Forschungszusammenhang des Sonderforschungsbereichs. Während Ficino bislang in der Germanistik vor allem mit Blick auf seine Bedeutung für den Melancholie-Diskurs und damit zusammenhängend für den frühneuzeitlichen Roman untersucht wurde, unterstrich Eming, dass gerade Impulse jüngerer wissensgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Forschungen bislang wenig untersuchte Felder der Einflussnahme identifizieren können. Exemplarisch ist hier auf Konzeptionen von Träumen – omnipräsent im frühneuzeitlichen Roman – als Wissensquellen zu verweisen, auf die literarische Produktivität von Magie- und Alchemie-Diskursen oder die Bedeutung des bereits angesprochenen Konzepts des furor poeticus für die frühneuzeitliche Poetik – vor allem nördlich der Alpen. Abgesehen von den genannten vielfältigen Transferaspekten berührt Ficino die Interessen des Sonderforschungsbereichs vor allem auch deshalb, weil sich seine historischen Leistungen als ‚Knotenpunkte‘ oder ‚Verflechtungen‘ (entanglements) im Kontext von ‚Wissensoikonomien‘ sichtbar machen lassen, die ebenso weitausgreifend räumlich-geographisch wie zeitlich situiert sind und damit gängige Vorstellungen und Narrative von distinkten Epochen, Kulturräumen oder auch ‚Schulen‘ irritieren.

 Im Zentrum des ersten Tages und der ersten Sektion („Magiekonzepte“) standen Ficinos Konzeptionen einer magia naturalis, sowie Begriffe und Denkfiguren, die für diese zentral sind. Fosca Mariani Zini (Lille) beschäftigte sich in einem philosophischen Betrag mit Ficinos Verständnis des Verhältnisses von intellectus und anima. Sie arbeitete die Konzeption der Seele als Drittes und als Medium der dynamischen Verbindung des Nicht-Einen, der Vielheit, sowie sinnlicher Vorstellungen heraus, und konnte der anima damit vermittelnde Eigenschaften nachweisen, die dem Intellekt abgehen. Es wurde dabei – wie auch an vielen anderen Stellen der Tagung – deutlich, dass Ficino nicht allein neuplatonisch argumentiert, sondern vor einem zugleich mittelalterlich-scholastischen wie florentinisch-humanistischen Hintergrund Konzepte des Neuplatonismus in eigener Weise weiter entwickelt. Saverio Campanini (Bologna) untersuchte Ficinos Verhältnis zur Kabbala und seine Rezeption in Norditalien. Er arbeitete Elemente der Kabbala bei Ficino und ihm vorausgehenden Autoren heraus, die in das Werk des Venezianer Philosophen, Theologen und christlichen Kabbalisten Francesco Zorzi aufgenommen wurden. An Ficinos Schriften kann gezeigt werden, dass er über Kenntnisse der Kabbala verfügte, die über das hinausgehen, was er aus christlichen Polemiken beziehen konnte. Zorzi wiederum versuchte, über die kabbalistischen Denkformen hinauszugehen, die er bei Ficino vorfand. Campanini machte in seinem Vortrag deutlich, dass Zorzi sich jedoch häufig auf ficinianische Konzepte und Argumente bezieht, ohne dies auszuweisen; das müsse, so Campanini, im zeitgenössischen Kontext keine kalkuliert camouflierende Funktion haben, da Anspielungen wahrscheinlich erkannt wurden. Dies ist in der Folgezeit freilich nicht mehr notwendig der Fall gewesen.

Der Abendvortrag von Stéphane Toussaint (Paris) thematisierte Ficinos synthetisierende Magie-Konzeption. Mit seinem Begriff der magia naturalis wird Magie stark aufgewertet und avanciert – einem verbreiteten wissenschaftshistorischen Narrativ zufolge (Thorndike, Yates) – zu einer Vorform der modernen Naturwissenschaften. Toussaint stellte Ficinos Magie-Begriff in den Kontext seines spirituellen Naturverständnisses und arbeitete seine Verknüpfung mit Konzepten von Liebe, Intellektualität und Humanität heraus. Konzeptionen des Kosmos, die sich aus Anleihen bei Mechaniken und bei Automaten speisen, gehen mit den zuvor genannten Vorstellungen von Natur und Magie einher, reichen aber nicht aus, um ihre Konstruktion zu verstehen. Toussaint hob in diesem Zusammenhang vielmehr Ficinos Re-Formulierung der platonischen Eros-Konzeption hervor.

 Die erste Sektion des zweiten Tages („Medialitäten“) widmete sich medialen Dimensionen von Ficinos Denken. Susanne Kathrin Beiweis (Wien) verfolgte im Werk Ficinos – vor allem in der Schrift De vita und in seinen Briefen – Verweise auf die Wirkmacht eines „bestialischen Saturns“ und konnte so entgegen einer verbreiteten Sichtweise, die im Zusammenhang mit Melancholie vor allem den Geniegedanken akzentuiert (Klibansky/Panofsky/Saxl), ein nach wie vor auch dämonologisch fundiertes Melancholie-Verständnis aufzeigen, das mittelalterliche und neuplatonische Traditionen vermengt. Ein medialer Aspekt wurde dabei in der Vorstellung einen infizierenden Blicks des Melancholikers greifbar – einer fascinatio durch das „Gift Saturns“.

Der literaturwissenschaftliche Beitrag von Steffen Schneider (Trier) untersuchte am Beispiel des Textes De sole, einer Auslegung von Platons Sonnengleichnis, die literarische Verfasstheit von Ficinos Schriften, verknüpfte diese mit Wissensbeständen, auf welche dabei referiert wird und arbeitete poetische Strategien der Wissensvermittlung heraus. Der an Piero de’ Medici adressierte Text macht mittels seiner spezifischen Form, die poetische und epistemische Momente verbindet, dem Leser Angebote, mit denen er die Distanz zum Autor verringern kann. Solche Lektüre-Performanz wird, wie Schneider am Text anschaulich zeigen konnte, durch Vernetzungen zwischen der kosmologisch-gleichnishaften Wortwahl und dem historischen Freundschaftsdiskurs gewährleistet. Die Vernetzungen zeigen sich beispielsweise in Wortspielen oder in Überlagerungen von Referenzen. Sie basieren auf der Annahme von Korrespondenz-Beziehungen, die sowohl dem kosmologischen wie dem interpersonal-freundschaftlichem Zusammenhang eigen sind.

Nach der künstlerischen Dimension von Ficinos Texten fragte auch Anne Eusterschulte (Berlin, SFB 980) in ihrem Beitrag. Es ging ihr insbesondere um Ficinos Verknüpfung der Fakultäten imaginatio oder phantasia mit dem spiritus phantasticus, der als geistig-materiale Mischform eine Verbindung zur Transzendenz herstellt. Diese Vermittlungsbewegung kann besonders in poetischen Texten zum Ausdruck kommen, die durch ihre Auslegungsbedürftigkeit zum Wissensgenerator werden. Eusterschulte benannte und beschrieb antike und mittelalterliche Konzepte, auf die sich Ficino bei der Entwicklung dieser Denkfigur stützen konnte. Die Sektion wurde durch einen Beitrag von Tilo Renz (Berlin, SFB 980) abgeschlossen, der unterschiedlichen Darstellungsformen von Wissen nachging. Renz stellte Ficinos Äußerungen zum Traum in seiner Theologia platonica in einen weiteren zeitgenössischen Kontext und vermochte auf diese Weise parallele Entwicklungen aufzuzeigen. Ficinos Traum-Konzeption korrespondiert in der Fokussierung auf den Realitätsstatus von Träumen und auf die Art und Weise ihrer Wahrnehmung mit einem narrativen Text, der wenig vor Ficinos Schrift nördlich der Alpen entstanden ist: mit der Fassung des Alexanderromans durch den Münchner Arzt und Literaten Johann Hartlieb, dem wohl wichtigsten nordalpinen Exponenten einer Diskussion um Magie und Mantik im 15. Jahrhundert.

Die letzten beiden Sektionen („Transfers in die Romania und darüber hinaus“ und „Transfers in den deutschsprachigen Raum“) stellten Rezeptionsvorgänge vor allem nördlich der Alpen in den Mittelpunkt. Sergius Kodera (Wien) beschäftigte sich mit der Rezeption von Ficinos Konzeption einer Ansteckung durch Augenstrahlen bei verschiedenen Autoren. Anhand der Kategorien Plagiat, Echo und Aneignung untersuchte er, wie Textpassagen Ficinos in neue Umfelder übertragen, damit in ihrer Bedeutung verändert und gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch in zunehmendem Maße zum Gegenstand literarischer Parodien wurden. Wie Kodera nahm auch Volkhard Wels (Berlin, SFB 980) in seinem Vortrag zur Rezeption der neuplatonischen Lehre von der Inspiration durch göttliche Eingebung Verhältnisse in Deutschland und Frankreich in vergleichender Perspektive in den Blick. Dass sich die Zyklen der Rezeption in beiden Ländern deutlich unterscheiden, brachte Wels mit dem im Verlauf der Tagung immer wieder diskutierten Einfluss reformatorischen Denkens in Deutschland in Verbindung. Bernhard Huß (Berlin) ging es um die zeitnahe Rezeption Ficinos im Kreise der Florentiner Literaten und Literaturexegeten. Er zeigte, wie im Kontext platonisierender Auslegungen von Werken Dantes und Petrarcas ficinianische Positionen teils fragmentiert und selektiv benutzt, teils reformuliert wurden.

Dem Transfer der Schriften Ficinos allein in den deutschen Sprachraum widmeten sich in der vierten Sektion am letzten Tag die Beiträge von Grantley McDonald (Salzburg), Barbara Sasse Tateo (Bari) und Antje Wittstock (Siegen). McDonald untersuchte verschiedene Themenkomplexe (Enthusiasmus-Theorie, Liebesbegriff), die im frühen 16. Jahrhundert von Autoren im Umkreis der Leipziger Universität aufgenommen wurden. Während des Vortrags und in der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass der Nachvollzug solcher konkreter Transfers die gängige strenge Dichotomie zwischen Humanismus und Scholastik, wie sie die historischen Akteure selbst häufig (mit strategischen Absichten) formulierten, problematisch werden lässt und den Blick gerade auf historische Verflechtungen freimacht. Barbara Sasse widmete sich der deutschen Übersetzung der ersten beiden Bücher von Ficinos De vita durch Johannes Adelphus Muling und stellte hier eine Tendenz zur Umarbeitung der Schrift primär für den praktischen Gebrauch sowie verschiedene konzeptionelle Änderungen fest, etwa bei der Melancholie-Vorstellung. Antje Wittstock ging schließlich der Frage nach, warum das dritte Buch der Schrift De vita von Muling nicht übersetzt wurde. Dass gerade die Magie-Vorstellung Ficinos, die hier enthalten ist, für das Denken der Zeitgenossen eine Herausforderung darstellte, zeigt sich – so ihre These – in den geringen Zeugnissen für die Rezeption dieses Teils der Schrift: Erhalten sind lediglich eine vollständige deutsche Übersetzung sowie verschiedene Exzerpte. Im Vortrag und in der anschließenden Diskussion wurden ferner rhetorische Strategien Ficinos erörtert, mit denen er in De vita möglichen Vorbehalten gegen seine Theorie der Magie antizipierend begegnet und damit einer schädigenden Wirkung seiner Schrift entgegenarbeitet.

Tagungen mit einer grundlegenden Fragestellung zu einem umfassenden Forschungsgebiet werfen naturgemäß mindestens so viele neue Fragen auf, wie sie bestehende zu bearbeiten versuchen. Als ein Positivum der Berliner Zusammenkunft ist festzuhalten, dass es gelungen ist, das umfassende Netzwerk von Traditionszusammenhängen, Wissenstransfers und Re-Kontextualisierungen, in dem Ficinos Werk zu situieren ist, sichtbar werden zu lassen. Positiv war für die Vortragenden ferner, dass sich zwischen den Beiträgen viele Querverbindungen und Anknüpfungspunkte ergeben haben, die zu intensiven Diskussionen führten. Eine Publikation, in welche die Anregungen aus den Diskussionen aufgenommen werden, ist in Vorbereitung.