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Wissen en miniature – Theorie und Epistemologie der Anekdote

Tagung konzipiert und organisiert von Teilprojekt B07 „Die Anekdote als Medium des Wissenstransfers“ (Leitung: Prof. Dr. Melanie Möller), 25.–27.10.2018

09.11.2018

Simonides erfindet die Mnemotechnik

Simonides erfindet die Mnemotechnik
Bildquelle: Charles-Nicolas Cochin [Public domain or CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Bericht von Matthias Grandl

Grundgedanke der Tagung war es, die von unserem Teilprojekt B07 untersuchte literarische Kleinform der Anekdote möglichst fach- und literarturübergreifend in all ihren verschiedenen Erscheinungsformen unter die Lupe zu nehmen. Impulsen aus der Philosophie, deren jüngste Beiträge die lange Zeit unwissenschaftlich anmutende Miniaturerzählung zur „philosophischen Form“ nobilitieren, wurden Lektüren aus der Perspektive der Anglistik, Germanistik, Komparatistik, Kunstgeschichte, Mediävistik, Romanistik und nicht zuletzt unserer Klassischen Philologie gegenübergestellt, um dem über lange Zeit wirkenden Phänomen der Anekdote eine theoretische Kontur zu verschaffen. Maßgebend waren hierbei die zentralen Fragestellungen des Sonderforschungsbereichs, welchen Prozessen der Umstrukturierung, des Wandels und der Verschiebung Wissen im Zuge der Neukontextualisierung von Anekdoten oder im Akt des Anekdotisierens an sich unterworfen ist und inwieweit anekdotische Narrative darauf Einfluss – oder davon Abstand – nehmen. Ebenso relevant war die Frage, welche Geltung das transparente wie subkutane Miniaturwissen der eingeflochtenen Anekdoten im Kontext eines teleologischen Haupttextes (und in Konkurrenz zu ihm) entfalten und auf welche erzählerische Weise dies geschehen kann. Konzeptgruppeninterne Themen wie Ausblendungen und Selektionen von Wissen, die auf die pointierte Kürze der Anekdote oder die wissensoikonomischen Implikationen ihrer Akteure zurückzuführen sind, standen dabei ebenso im Vordergrund wie ‚materialspezifische‘ Untersuchungen zur Formbarkeit, Anordnung und Lokalisierung der Anekdote im Text. So sollte im Zuge dieser Tagung gerade in der Synopse möglichst vieler Textbeispiele unterschiedlicher Epochen und in der Bündelung interdisziplinärer Vielfalt ein möglichst facettenreiches Gerüst zur theoretischen Konturierung, Epistemologie und Phänomenologie der Anekdote von der Antike bis in die Moderne zu Tage treten.

Zunächst führte die Teilprojektleiterin Prof. Dr. Melanie Möller anhand eines kurzen Forschungsberichtes in die zweijährige Arbeit unseres Teilprojektes ein und stellte die inhaltliche wie strukturelle Konzeption des Sonderforschungsbereiches vor. Hierbei ging es ihr vornehmlich um die Verortung des Teilprojektes innerhalb der Konzeptgruppen. So vermag die Anekdote gerade in ihrer performativen Ausformung, also über Wiedererzählung und geteilte curiositas an ihrem Geheimwissen, einzelne Akteure zu einem Denkstil oder einer wissensoikonomischen Gruppierung zu verbinden. Selektionen und Variationen, die sich aufgrund eines spezifischen Wiedererzählens protokollieren lassen, und die potentielle Kleinheit (brevitas), Isolation und Selbstreferenzialität der Anekdote wurden im Kontext der für die Konzeptgruppe V „Transfer und Negation“ relevanten Fragestellungen diskutiert. Perspektiven der Konzeptgruppe VI „Medium und Material“ spiegeln sich vor allem in der formalen Bauart der Anekdote (occasio – provocatio – dictum/factum) wider, die zu einem Definitionsversuch herangezogen werden und der Abgrenzung von anderen Kleinformen (u.a. Exempel, Apophthegma, Witz) dienen kann. Zu den Gesichtspunkten der Materialität ließen sich ferner die unterschiedlichen formalen, zumal auch layoutspezifischen Erscheinung der Anekdote zählen, gerade wenn diese in Sammlungen und seriellen Verknüpfungen auftrete. Gemeinsamer und ständiger Fokus müsse dabei immer die Frage nach der besonderen Wissensform der Anekdote, dem epistemischen Material, das sie zur Verfügung stelle, und den mit ihr verbundenen Strategien zur Erlangung von Geltung und Wahrheitsanspruch sein.           

Bereits der eröffnende Vortrag von Herrn Dr. Frank Wittchow knüpfte an die definitorischen Vorüberlegungen an, ging es doch um die Bewertung von Schnittmengen und Unterschieden von exemplum und Anekdote. Ausgehend von den Phänomenen der Texte aus der Zeit der späten Republik und des frühen Prinzipats ließe sich eine Entwicklung weg vom exemplum und hin zur Anekdote als präferierte literarische Form verzeichnen. Diese Transfers innerhalb narrativer Techniken äußerten sich auch in einer epistemischen Verschiebung: Während es dem exemplum auf ein „Wissen für“ (mit den moralischen Implikationen zur Imitation) ankomme, konzentriere sich die Anekdote eher auf ein deskriptiv anmutendes Wissen „von“. Wittchow protokollierte darüber hinaus einen gesellschaftlichen Transfer; das unzeitgemäße exemplum stehe für die nunmehr hohlen Handlungsmaximen des alten römischen Adels. Gleichwohl blieb aufgrund der definitorischen Nähe der beiden Kleinformen in der anschließenden Diskussion die interessante Frage bestehen, inwiefern auch die Anekdote Reproduzierbarkeit und Übertragbarkeit in sich tragen und trotz der Schilderung von Einzelfällen in der Übernahme des – im Wortsinne des isolierenden Präfixes – Exemplarischen des Exempels zum Präzedenzfall werden kann.

Im nächsten Beitrag, der auch das Gelingen des disziplinären wie zeitlichen Spagats der Tagung vor Augen führte, setzte Prof. Dr. Inka Mülder-Bach die Diskussion und Verortung der Anekdote zwischen Einzelfall, Exempel und Ausnahme fort und zeigte, welchen Spielraum Fontane dem Anekdotischen in seinen Romanen und autobiographischen Schriften verschafft. Neben dem Spannungsverhältnis von kleiner und großer Form, das sich beispielsweise in der Genese der großen Romane Fontanes aus journalistischen faits divers oder der Gegenüberstellung von Typus und „recht eigentlichem“ Original äußert, kam es Mülder-Bach bei der Analyse der Fontaneschen Akteure vor allem auf deren Funktion als Erzähler von Anekdoten an. Somit lässt sich die Anekdote nicht nur als autobiographische Erzähl- und Wissensform charakterisieren, sondern auch als praktisches und brauchbares Wissen jedes einzelnen Erzählers, was dem Konzept antiker Topik im Bereich der rhetorischen inventio entspricht und im Zuge der Diskussion erneut zum Hinweis auf die Möglichkeit der Anekdote, zur Verstetigung einer Ausnahme zu werden, anregte. Die Ausführungen zu den zeitgenössischen „Erzähl-Kollektiven“ als Gesprächsrunden in Herrenhäusern, die mittels Anekdote (als deren Medium) für Tradition und Sicherung der memoria privater Wissensschätze dienten, ließen sich dabei mit den Frageperspektiven unserer Wissensoikonomien engführen.

Mit Falk Quenstedts Beitrag ging es in den Bereich der mediävistischen Reiseliteratur. Er widmete sich den Formen und Funktionen der Anekdote bei Marco Polo und stellte dabei die ital.-franz. Version den deutschen Übersetzungen vergleichend gegenüber. Die Anekdote – er bezog sich dabei auf Stephen Greenblatts Marvelous Possessions – könne für Verwunderung gegenüber fremden Kulturen stehen und werde bei Marco Polo zum Medium transkultureller Aushandlung. Grundsätzlich verbuchte Quenstedt eine relative „Anekdotenarmut“ in dem eher nüchtern-deskriptiven als narrativen Text, doch scheine der Anekdote gerade im Bereich von Exkursen ein fester Platz reserviert; dort zeige sich ihre diplomatische Funktion als Vermittlerin zwischen Kulturen, wie anhand einiger Beispiele aus den Bereichen Divination, Religion und Kriegskunst vor Augen gestellt wurde.      

Simon Godart widmete sich, ausgehend von Blumenbergs Monographie Das Lachen der Thrakerin, die die Rezeptionsgeschichte der berühmten Thales-Anekdote zum Thema hat, der kritischen Relektüre einer Station dieser Rezeptionsgeschichte und bewertete die Transfers und Umformungen, die sich aus Montaignes Variante der Anekdote ablesen lassen. Die Konstellation von Anekdoten und Gegenanekdoten, die in Montage und Pastiche zusammenfinden und den jeweiligen Mangel der anderen komplementär auszugleichen versuchten, setzte Godart dabei dem Konzept der Isosthenie gleich, bei der sich gleichwertige, doch mitunter widersprüchliche Textteile die Waage halten. In der sich anschließenden Diskussion wurde zusätzlich angeregt, das Phänomen der skeptischen Isosthenie bereits in einer einzigen Anekdote und deren Funktion und Wirkweise zu verorten.

Prof. Dr. Verena Lobsien spitzte in ihrem Vortrag das Verhältnis von Skepsis und Anekdote zu und erweiterte die Debatte um Überlegungen zu Aporie und Ambiguität dieser kleinen Form, die sich in der interpretatorischen Fülle der Anekdote, als einem „Teppich der Möglichkeiten“, äußere. Der von der Anekdote erzeugte ballanceartige Schwebezustand der Wahrheiten lade nachgerade zu allegorischen Ausdeutungen ein, was Lobsien an einem Textbeispiel von Andrew Marvell vorführte. Dabei handelte es sich um die allegorische Interpretation eines als Ereignis selbst ausgesparten anekdotischen Kutschenunfalls Cromwells, die mittels „erzskeptischer Verfahren“ das Geschehene zwischen zufälligem Naturereignis und zukunftsweisendem Omen changieren lässt; Offenheit, Ungewissheit, Kontinuität und Bruch, Sturz und Hybris, Komik und Tragik hielten sich darin die Waage.

Am nächsten Tag führte Prof. Dr. Melanie Möller die Strategien der Anekdoten vor Augen, die die Schrift über grammatici et rhetores aus der Feder Suetons entwickelt. Sie konzentrierte sich auf die Philologenviten und verglich sie mit einigen Dichterleben. Auffällig ist, dass das Wissen von der Sprache (als Philologie, Rhetorik und Dichtung) in den Händen von Außenseitern liegt, die in schöner Regelmäßigkeit gegen Protokolle verstoßen und dadurch zur Stabilisierung bewährter Wissensgemeinschaften beitragen. Andererseits zeigt schon der Sturz des Archegeten der philologischen Methode, des Krates, dass Präsentation und soziale Erschließung von Wissen zu wesentlichen Verschiebungen in etablierten Wissenskartellen führen können. Suetons Anekdoten können auch deshalb eine Langzeitwirkung entfalten, weil sie mit – auch in materieller Hinsicht sichtbaren – Selektionstechniken arbeiten, die die Geltungsansprüche ihrer Autoren untermauern. 

Sophie Buddenhagen nahm in ihrem Vortrag die Prodigien der Augustusvita in den Blick, wofür sie zuerst das Prodigium begrifflich definierte und von anderen Begrifflichkeiten abzugrenzen versuchte. Sie zog zwischen dem Prodigium und der Anekdote die Parallele, dass beide Erzählformen zwischen Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Fiktion changieren und sie dasInteresse an der Ausnahme, am Befremdlichen eint. Buddenhagen hob die gesammelte Darstellung der Prodigien in der Augustusvita in einer separaten Rubrik (im Vergleich zu den übrigen Viten) hervor und fokussierte in ihrem Vortrag die Prodigien vor, während und nach der Geburt. Dabei konnte sie im Text die gesuchte Nähe zwischen Prodigium und Anekdote und auch die Relevanz des Vorwissens der Leser für das Verständnis von Anekdoten aufzeigen. Abschließend ging sie auf die Gestaltung der Vorzeichenpassage in Form von ringartig widerkehrenden Motiven der anekdotisch geschilderten Prodigien ein und stellte so die Verschränkung der Anekdote als Medium mit ihrer materialen Konfigurationheraus.

Im Zentrum von Prof. Dr. Tobias Reinhardts Vortrag stand die detaillierte Interpretation einer Anekdote aus Ciceros Academici libri, die sich durch besondere Evidenz und deiktische Kraft auszeichnete: Cicero verbildliche in der Geste des Stoikers Zeno die einzelnen Schritte geistiger Wahrnehmung; im Schließen einer flachen Hand zur Faust zeige sich der Weg von der κατάληψις (als bloßem Begreifen) zur ἐπιστήμη (als verbürgtem Wissen). Die Anekdote werde hier zur Bühne einer Aushandlung von kognitiven Dissonanzen und den verschiedenen Abstufungen von Wissen als Wissen mit oder ohne autoritative Geltung und sei darin von besonderem epistemischem Wert. Reinhardt schloss seine Interpretationen mit Überlegungen zu den verschiedenen Transfers zwischen griechischer und römischer Philosophie, die die Anekdote gerade in ihrer Figurenkonstellation mit dem Römer Cicero als Erzähler griechischer Philosophiegeschichte und Vermittler zwischen Stoa und akademischer Skepsis anregte. 

Mit Dr. Rüdiger Zill folgte ein so grundsätzlicher wie wichtiger Beitrag zur Begriffsgeschichte der Anekdote, die diese im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts durchlaufen hatte. Ausgehend von Prokops Anekdota, die Anfang des 17. Jahrhunderts, nachdem sie in Vergessenheit geraten waren, neu publiziert wurden, lassen sich im Laufe der folgenden Dekaden für den Begriff „Anekdote“ Transfers auf gleich mehreren Ebenen protokollieren: neben semantischen auch funktionelle und mediale Verschiebungen. Zill führte diese Veränderungen mit den gesellschaftlichen Implikationen und den sozialen Kontexten der Erzählung von Anekdoten eng, beispielsweise ihrer Aufführung in Herrengesellschaften und Salons. Im anschließenden Gespräch wurde erneut das Streben der kleinen Form nach Performanz und sozialem Raum unterstrichen.

Ein Stück Wissenschaftsgeschichte lieferte Prof. Dr. Christiane Reitz mit einem Blick in Ludwig Hatvanys anekdotische Satire „Die Wissenschaft des nicht Wissenswerten“ vom Anfang des 20. Jahrhunderts, in dem der Erzähler seine Leser in humoristischer Manier am akademischen Leben der damaligen Zeit teilhaben lässt. Die Satire spiegelt den damals vorherrschenden Streit zwischen einer romantisierenden und auf die Lebenswelt gerichteten Altertumskunde und einer nüchtern-theoretisierten, verwissenschaftlichten Klassischen Philologie wider (vgl. die Antagonisten Kurt Hildebrandt und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff) und gibt scheinbar authentische sowie kompromittierende Einblicke in das intellektuelle Milieu des George-Kreises, dem besagte Philologen angehörten.

Mira Becker-Sawatzky analysierte in ihrem Beitrag die Kontexte und Funktionen der Anekdote in frühneuzeitlichen Kunstdiskursen, wobei sie Texte ganz unterschiedlicher Genres heranzog. Beim Blick auf gelehrte Trattati falle auf, dass die detaillierte Ausformulierung von (meist aus der Antike tradierten) Anekdoten einer kurzen Referenz auf die selbigen weiche und der Leser nur im Verfügen des einschlägigen Vorwissens auf seine Kosten komme. Anhand von Auszügen aus Künstlerviten zeigte Becker-Sawatzky, wie – analog zum Detailblick der Anekdote – die Texte auf besondere Einzelheiten in den Gemälden der besprochenen Künstler hinwiesen und dadurch gleichsam ein Miniaturwissen (ästhetischer, aber auch technisch-praktischer Natur für die ‚korrekte‘ Bewertung von Ästhetik und Stil des Künstlers) an den Tag legten. Den Abschluss bildeten Anekdoten aus Künstler-Tagebüchern, die das Streben der Kunst nach möglichst genauer Abbildung der Natur ad absurdum führten; die Frage nach den mimetischen Kompetenzen der Kunst, wie die Diskussion wiederholend zeigte, schien grundsätzlich der gemeinsame Nenner aller ausgewählten Künstler-Anekdoten zu sein.

Um Leben und Werk des Künstlers Ad Reinhardt drehte sich Prof. Dr. Werner Buschs Beitrag, der den zweiten Tag unserer Veranstaltung beschloss. Am höchst idiosynkratrischen Lebenslauf des Künstlers zeigte Busch, wie sich Anekdotisches und Geschichte vermischten, indem sich Ereignisse von welthistorischem Rang (z.B. die Unabhängigkeit Algeriens) mit den persönlichen Lebensentscheidungen Ad Reinhardts (z.B. der Gründung eines eigenen Museums) paarten; diese faits divers schienen trotz ihrer Individualität plötzlich Schlagzeilen von größter historischer Relevanz zu sein. Reinhardt scheute sich nicht, in seinen Lebenslauf an geeigneter Stelle, so Busch, mittels gefälschter Anekdoten ändernd einzugreifen und „Korrekturen am Faktischen“ zu unternehmen (z.B. Geburtstag und -ort), was letztlich die überkommene Unmöglichkeit der Trennung von Kunst und Leben konsolidiere. Anekdotisierung komme hier einer Selbst-Mythisierung gleich, die für die überzeitliche Gültigkeit seiner Biographie stehen könne, wie sie auch in Ad Reinhardts präferierter künstlerischer Form, dem schwarzen Quadrat als anthropologischer Grundform, zum Ausdruck komme. 

Katharina Hertfelder versuchte in ihrem Vortrag, Blumenbergs Verwendung von Anekdoten mit dem musikalischen Begriff der Improvisation zu beschreiben. Blumenbergs Improvisation „in und mit Anekdoten“ offenbare sich an der Beweglichkeit dieser kleinen Form innerhalb seiner Texte. Neben den Phänomenen der Wanderanekdote oder der anthropomorphen Erscheinung des Miniaturnarratives rege vor allem ihre hohe Transplantationsfähigkeit (von einer Urform der Anekdote zu ihren unterschiedlichen Varianten) zur Verwendung von musiktheoretischen Konzepten wie der Komplementarität, Abspaltung, Verkürzung und Erweiterung sowie der Sequenzbildung an, die sich gut mit dem Transfer-Begriff unseres Sonderforschungsbereichs verbinden lassen. In der Diskussion wurde die (gerade in Analogie zur Textproduktion) als allzu lose und frei erscheinende Improvisation noch um das Konzept der Komposition erweitert.

Auch Matthias Grandls Beitrag galt in seinem ersten Drittel dem Versuch einer Beschreibung von Hans Blumenbergs anekdotischer Technik. Er machte allerdings – auf Anregung der SFB-internen Konzeptgruppe „Medium und Material“ – das Konzept der Affordanz, das James Jerome Gibson auf dem Gebiet der Gestaltpsychologie begründete, fruchtbar und beschrieb in Analogie dazu Blumenbergs Verwendung von Anekdoten und deren an- und einschließende Kommentierung als ein automimetisches Verhältnis; dass der Stil von Anekdoten sich in deren Kommentierung wiederhole, ganz als könne man Anekdoten nur mit Anekdoten beikommen, zeigte er im Anschluss an Leonardo Sciascias Glossar sizilianischer Redewendungen und der argumentativen Struktur von Ciceros zweitem Buch De divinatione, das trotz Konkurrenz und Rivalität zum ersten Buch doch nur anekdotischer Kommentar vorausgegangener Anekdoten bleibe, ganz als berge die Form der Anekdote eine epistemische Anweisung zur ihrer spezifischen Weiterverarbeitung.

Den Abschluss der Tagung bestritt Dr. Sebastian Matzner, der am Beispiel der Termini ‚Sodomit‘ und ‚Katamit‘ in einer tour de force durch die Weltliteratur die (Geheim-)Geschichte dieser Nomenklatur innerhalb von Anekdoten nachzeichnete. Dies glich einer Suche nach dem narrativen Kern der Miniatur und einer möglichen Ur-Anekdote, die den Grund für die besagte Namensgebung angab, was die Anekdote in den Bereich der Aitiologie rückte, was auch Thema der nachfolgenden Diskussion war. Gleichzeitig wies Matzner auf die Polyvalenz der Sodomie im Laufe der Zeiten hin, die sich in der potenziellen Unschärfe, Ambiguität und Arbitrarität der Anekdote als „Scharnier zu mehreren Lesarten“ spiegle. Matzner sprach ferner von kumulativer, assoziativer und performativer episteme, die in der Form der Anekdote geronnen und verdichtet sei. Die sich daran anknüpfende Formulierung des synekdochischen Charakters der Anekdote, der Typen und Gruppen abzubilden vermöge, lud im Anschluss zur grundsätzlichen Frage nach der Anekdote als Teil der Sphäre des uneigentlichen Sprechens, der Tropen und Figuren, ein; auch das viel diskutierte mise-en-abyme-Konzept, das auf die Fähigkeit der Anekdote, Großes im Kleinen zu spiegeln, zielt, wurde an dieser Stelle erneut angeführt.

In der gemeinsamen Abschlussdiskussion wurden die mitunter verblüffenden Überkreuzungen der einzelnen Beiträge, wie sie bereits in den Einzeldiskussionen thematisiert worden waren, kurz zusammengeführt. Diese reichten von der Wiederkehr bestimmter Motive (z.B. Sturz und Unfall, die auch für die Anekdote als exemplarischen casus stehen könnten) über Themenbereiche, die der Anekdote besonders zu eignen scheinen (z.B. die Sphäre des Orakelhaften, Ominösen und ihre [Un-]Vorhersehbarkeit) bis hin zur Zusammenschau der verschiedenen Wissensformen der Anekdote, wie sie im Laufe der Tagung begegnet waren.                  

Die Ergebnisse der Tagung, die Beiträge und die so lebendigen wie fruchtbaren Diskussionen, sollen im folgenden Jahr in einem Sammelband festgehalten werden.