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Zwischen Wissensakkumulation, Partizipation und Selbstreflexion. Formen der Wissensdiskussion an den gelehrten Sozietäten und ihre Medien

Studientag mit Prof. Dr. Caspar Hirschi (Universität St. Gallen), 05.11.2021

09.11.2021

Chrysoloras_Erotemata

Chrysoloras_Erotemata
Bildquelle: Marcus Valerius Martialis, Epigrammaton Libri XIIII, Venedig 1552.

Bericht von Martin Urmann
 

Der Studientag fragte nach dem Wissenstransfer zwischen den frühneuzeitlichen Akademien und der gelehrtenrepublikanischen Öffentlichkeit vor dem Hintergrund des sich seit dem späten 17. Jahrhundert vollziehenden Übergangs zur periodischen Wissensproduktion und mit Blick auf deren einschlägige mediale Formate. Diskutiert wurden einerseits die Preisfragen der Akademien in Frankreich sowie der Berliner Akademie und andererseits die Wissensgroßprojekte an und im Umfeld der Sozietäten, wie sie das Dictionnaire der Académie française und die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert darstellten.

In ihrer Einführung „Partizipation und Konkurrenz. Mediale Dispositive und institutionelle Arrangements gelehrter Wissensverhandlung im 17. und 18. Jahrhundert“ betonte Anita Traninger (SFB 980, TP A07) die große Rolle von öffentlich diskutierten Fragen in periodischen Medien und damit das von der bisherigen Forschung unterschätzte partizipative Moment in der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik. Nicht von ungefähr, so Traninger, koinzidierte das bis dahin ungekannte Breitenphänomen der akademischen Preisfragen mit dem Entstehen der periodischen Presse, über die sich ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die europäische Gelehrsamkeit druckschriftlich unter dem Vorzeichen der Periodizität neu konfigurierte. Die Zeitschriften veröffentlichten jedoch nicht nur die Preisfragen der Akademien, sie versetzten sich zugleich auch selbst in den Dialog mit ihrer Leserschaft und stellten – in Frageform – eine Fülle von Themen zur öffentlichen Diskussion. Diese Entwicklung darf laut Traninger nun aber nicht als ungebrochener Siegeszug der periodischen Presse und als monolineare Geschichte der Wissensbeschleunigung beschrieben werden, die als solche wiederum allein der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts zuzurechnen wäre. Vielmehr handelt es sich um eine komplexe Geschichte des Wissenstransfers, die insbesondere auch im Lichte multipler Konkurrenzformen zu betrachten ist. Allen voran ist hier die institutionelle Konkurrenz von Universitäten und Akademien zu nennen, zwischen denen hinsichtlich der epistemischen Gattung der Frage ein stupender „negativer Transfer“ bestand, so Traninger. Ferner war die mediale Konkurrenz beziehungsweise Koexistenz der funktional bestehenden Formen der Schriftlichkeit und der ideell immer noch prägenden Vorstellung der mündlich-präsentischen Kommunikation wesentlich.  

In seinem Vortrag „Dynamisierung des Wissens, gelehrte Geltungsansprüche und publizistische Konkurrenz in Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts“ hob Caspar Hirschi (Universität St. Gallen) zentral auf die Diskrepanz zwischen der rhetorischen Selbstdarstellung der Editoren enzyklopädischer Werke in den einschlägigen Annoncierungen und Vorworten einerseits und der realen redaktionellen Praxis bei der Erstellung solcher gewichtiger Buchpublikationen seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert andererseits ab. Letztere war geprägt von umfangreichen Kompilations- und Übernahmetätigkeiten zwischen den Herausgebern von Wörterbüchern und Enzyklopädien, die auf dem Buchmarkt des 18. Jahrhunderts in einem sich fortwährend steigernden Konkurrenzverhältnis zueinander standen. Dies stellte jedoch, wie Hirschi zeigen konnte, just die Voraussetzung für die forcierte Innovationsrhetorik der Editoren und deren Bemühen um geschützte Urheberrechte dar, welche sich allerdings im 18. Jahrhundert selbst in England nur begrenzt realisieren ließen. Hierfür fungierte stattdessen, so Hirschis plausible Hypothese, die Aufnahme aufwendiger Bilder und Illustrationen, was sich gerade an den „planches“ der Encyclopédie und dem um diese entbrannten zeitgenössischen Copyrightstreit explizieren ließ. Der stupende Aufstieg der Gattung Wörterbuch, den Hirschi eingehend mit einem Überblick über die bedeutendsten englischen, französischen und deutschen Publikationen seit den 1670er Jahren demonstrierte, bezeugt zugleich die Dynamisierung des Wissens und die maßgebliche, wenngleich auch ambivalente Rolle, die die Akademien bei dieser Entwicklung spielten. In diesem Zusammenhang thematisierte Hirschi vor allem die Bedeutung des Dictionnaire der Académie française und dessen lange spanungsreiche Genese bis zur Publikation der ersten Ausgabe im Jahr 1694. Das Werk avancierte schnell zum Vor-, aber auch zum Gegenbild für ähnlich geartete Projekte und geriet dabei insbesondere durch die Ausweitung des Gegenstandsbereichs über die rein sprachlich-ästhetische Sphäre hinaus unter Druck, wie sie schon Furetières Dictionnaire universel (1690) vorgenommen hatte. Im 18. Jahrhundert setzte schließlich Chambers’ Cyclopaedia (1728) neue Maßstäbe, die auch für die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert prägend waren. Deren Autoren wiederum sahen sich schon zeitgenössisch dem symptomatischen Vorwurf des Plagiats, vor allem vonseiten der Autoren des jesuitischen Dictionnaire de Trévoux (1704ff..), ausgesetzt, womit abschließend die gesteigerten Konkurrenzverhältnisse und divergierenden gelehrten Geltungsansprüche in diesem Wissensfeld erneut eindringlich veranschaulicht wurden.    

In seinem Diskussionsimpuls zur „Wissensreflexion in den Preisfragen der französischen Akademien und der Berliner Akademie der Wissenschaften“ unterstrich Martin Urmann (SFB 980, TP A07) die Rolle von Partizipation und Periodizität als zentralen Prägefaktoren des seriell erscheinenden Mediums Preisfragen im späten 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts. Die erstaunliche Resonanz dieser Gattung, die in Frankreich insgesamt bis zu 15.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern mobilisierte, sei laut Urmann in der Tat geeignet, unser Bild von der Wissenskultur der Aufklärung zu verändern und deren partizipativen Charakter stärker in den Vordergrund zu rücken. Der Vortrag skizzierte zunächst die konstitutiven Merkmale und die Entwicklung des „concours académique“ von 1670 bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Darauf wurde der spezifische Diskurs der Wissensreflexion in den Preisfragen rekonstruiert, der aus der „Rhetorik des Herzens“ hervorging, und am Beispiel der Frage der Académie française nach dem „esprit philosophique“ von 1755 genauer ausgeführt. Vor diesem Hintergrund stellte Urmann abschließend erste Vergleichsüberlegungen zwischen den prix d’éloquence der französischen Akademien und den philosophischen Preisfragen der Berliner Akademie der Wissenschaften an, wobei hier vor allem die Wettbewerbe von 1751 (über die Pflichten) und 1768 (über die natürlichen Neigungen) ausschlaggebend waren. Die zentrale These lautete, dass sich in den rhetorischen Preisfragen der französischen Akademien zwischen 1720 und 1760 ein Selbstreflexionsdiskurs des Wissens beobachten lässt, der die Konsequenzen der Umstellung auf schriftliche Distanzkommunikation und periodische, faktenorientierte Wissensproduktion – in der Spannung zur rhetorisch-dialektischen Tradition und ihrem mündlichen Präsenzideal – zum Thema macht. Das Gleiche gilt von anderen Ausgangsbedingungen her für die philosophischen Wettbewerbe an der Berliner Akademie. Ferner erklärt sich diese Entwicklung für Urmann zu guten Teilen aus der Struktur des Mediums Preisfragen selbst, in dem sich unter den Bedingungen des Wissenswandels des voranschreitenden 18. Jahrhunderts die gattungsprägende Entscheidungsfrage zur Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissen transformierte.

Die intensive und umfangreiche Diskussion drehte sich um die Rolle von Partizipation und Konkurrenz in den Medien der Wissensakkumulation und -reflexion des 18. Jahrhunderts, um Fragen des Wissenstransfers zwischen den verschiedenen Institutionen der république des lettres sowie die sich wandelnden Geltungsansprüche des Wissens der Akademien gerade in Konkurrenz zu epistemischen Großunternehmen wie jenem der Encyclopédie. Immer wieder wurde dabei auch die Bedeutung der Persistenz von mündlich-kopräsenten Debattenformaten und deren epistemischer Status thematisiert. Im Ganzen konnte so ein Beitrag dazu geleistet werden, das wissensgeschichtliche „Momentum“ genauer zu bestimmen, durch welches die Langfristtradition der epistemischen Gattung der Frage ab dem späten 17. Jahrhundert eine signifikante Transformation und Taktungsänderung erfuhr.