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Dimitrie Cantemir: Transferring Knowledge, Shaping Identities

Workshop des Teilprojekts C06 „Transfer und Überlagerung. Wissenskonfigurationen in der Zeit der griechischen homines novi im Osmanischen Reich (1641–1730)“, 27.–28.06.2014

27.10.2014

Cantemir

Cantemir

Bericht von Nikolas Pissis

Anders als die übrigen Workshops des Teilprojekts, die sich ausgehend von der Bibliothek der Mavrokordati, anhand ihrer Teilmengen, die einzelnen Wissensbereiche der frühen phanariotischen Kultur jeweils in den Mittelpunkt stellen, war der vierte Workshop der Reihe komparativ konzipiert und zwar im Sinne der Fokussierung des Teilprojekts auf Episteme als stets von bestimmten Akteuren ausgehandeltes Wissen. Als Vergleichsfolie zu den Mavrokordati und insbesondere zum Fürsten Nikolaos, wurde sein Rivale, Dimitrie Cantemir (1673-1723) bestimmt. Cantemirs breitgefächertes Werk und seine Vielgestaltigkeit – Cantemir als moldauischer Adliger und Fürst, als Historiker und Philosoph, Theoretiker der osmanischen Musik und Geograph seiner moldauischen Heimat, schließlich als Mitglied der Brandenburgischer Akademie der Wissenschaften und Senator des Russischen Reiches – machen ihn zum Paradebeispiel für die Diskussion von Fragen des räumlichen und zeitlichen Wissenstransfers in der Zeit der ersten Phanarioten: das Verhältnis von Wissen und Macht im Phanar und in den Donaufürstentümern, die multiple temporalities der phanariotischen Gelehrsamkeit, die Repräsentationen des Osmanischen Reiches durch seine christliche Eliten gegenüber einem europäischen Publikum. Darüber hinaus scheint Cantemir – in seinen Strategien der Selbstinszenierung und Identitätskultivierung Nikolaos nicht unähnlich – mit seinem Entschluss 1711 die osmanische Loyalität zu Gunsten Russlands und Peters des Großen aufzugeben, ein alternatives Szenario zu verkörpern, das bei der Kontextualisierung der frühen Phanarioten stets mitzudenken ist.

Eröffnet wurde der Workshop von Stephanos Pesmazoglou (Panteion Universität, Athen) mit einem ausgreifenden Überblick zu Cantemirs bekanntestem Werk, seiner Geschichte des Osmanischen Reiches („Some Phanariot Influences on Cantemir’s Ottoman History and aspects of its Representation in early European Enlightenment„). Der Schwerpunkt lag auf den Einflüssen des phanariotischen Milieus (einschließlich einer Kritik des Einfluss-Konzeptes) und auf der uneinheitlichen Rezeptionsgeschichte des Werks. Andrei Pippidi (Universität Bukarest) beschäftigte sich dagegen mit der Entstehungsgeschichte des Werks. Er baute sie in eine kritische Chronologie der Schriften Cantemirs ein („The Chronology of Cantemir’s Work“), die manche früheren Annahmen zu ihren Kontexten und Motivationen als revisionsbedürftig darlegte. Der Kontextualisierung von Cantemirs Werken galt auch der Beitrag von Klaus Bochmann (Sächsische Akademie der Wissenschaften, Leipzig) über „Die Adressaten und Auftraggeber von Cantemirs Schriften“. Den unterschiedlichen Entstehungskontexten seiner Werke entsprachen Profilierungsversuche des Autors in unterschiedlichen Milieus (von den osmanischen Würdenträger des Sultanshofes bis zur Brandenburgischen Akademie und dem Kreis des Zaren in Petersburg und Moskau) sowie Varianten eines bewusst praktizierten, breitgefächerten Wissenstransfers. Der russische
Kontext von Cantemirs religionskundlicher Schrift zum Islam („Funny Stories. Notes on the Audience and Purpose of Cantemir’s The System or the Structure of the Mohammedan Religion“) wurde von Ovidiu Olar („Nicolae Iorga“-Institut für Geschichte, Bukarest) beleuchtet: Bestimmte Abweichungen zwischen der lateinischen und der russischen Fassung lassen die berüchtigte „trunkenste Synode“ des Zaren als mögliche Audienz gewisser eingebauten Fabeln identifizieren.

Florentina Nicolae (Ovidius Universität Constanţa) bot in ihrem Beitrag („The impact of Latin patristic literature on the work of Dimitrie Cantemir“) Einblicke in die Schreibpraktiken Cantemirs. Als Beispiel diente ihr sein Zugang zur lateinischen Patristik in erster Linie über den Gebrauch von Sekundärwerken. Neue Aufschlüsse zur selben Frage gewann Konrad Petrovszky (Universität Wien) der kürzlich (2014) eingeleiteten Faksimile-Edition der Werke Cantemirs ab, trotz ihrer vielfach problematischen Verwirklichung („Authorship and Scholarly Practice in the Light of the Recent Facsimile Edition of Cantemir's Writings“). Die Reproduktionen erlauben Annäherungen an der Arbeitsweise Cantemirs, die etwa die Zuarbeit seiner „Schreibwerkstatt“ oder die Bedeutung seiner Mehrsprachigkeit in ein neues Licht rücken. Harun Küçük (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) stellte den Komplex der osmanischen Diskurse physiologisch-medizinischer Beschreibung des Staates und seines Niedergangs vor („I told you I was sick: Political Physiology and Ottoman Political Thought, 1650-1732“). Er skizzierte ihre Entwicklung vom galenischen zum paracelsischen Paradigma im 17. Jahrhundert, sowie ihre Überwindung durch einen geographischen Diskurs im 18. Jahrhundert. Er verortete Cantemirs, Peter dem Großen gewidmete, Schrift „Monarchiarum Physica Examinatio“ (1714) in eine Schnittstelle zwischen den zwei Diskursen. Mit derselben Schrift Cantemirs befasste sich Nikolas Pissis (FU Berlin, SFB 980), der insbesondere die begrifflichen Verschiebungen und Modifikationen, sowie die Überlagerung der Danielschen Vier-Reiche-Lehre durch den physiologischen Diskurs betonte („Cantemir and the Russian Monarchy: From Political Theology to Political Physiology“).

Ein erster Schwerpunkt der Beiträge und der Diskussion ist in der stärkeren historischen Kontextualisierung von Leben und Werk der schillernden Figur Cantemir festzumachen. Erst die Rekonstruktion der wechselnden Kontexte, so das Fazit der Diskussion, erlaubt fundierte Neuerkenntnisse zu Cantemir als prominentem Akteur eines programmatischen Wissenstransfers gleich in mehreren Richtungen. Daneben ist als zweiter Schwerpunkt die nähere, an ausgewählten, konkreten Beispielen orientierte, Untersuchung der gelehrten Praktiken Cantemirs zu nennen. Der Vergleich mit den Mavrokordati, als Hintergrund der Kommentare stets präsent, wurde in der Schlussdiskussion eigens thematisiert, wobei ihre gemeinsame Istanbuler Lebenswelt mit ihrer Transkulturalität als konstitutiv für ihre politischen und intellektuellen Profile beschrieben wurde. Bestimmte Probleme, die im Workshop angesprochen und diskutiert wurden, wie der kohärente oder eklektische Charakter des transferierten Wissens, der unterschwellige oder manifeste Charakter des Wissenswandels, die Konvergenz oder Divergenz bestimmter geistiger Entwicklungen in der islamischen und der christlichen Gelehrtenkultur des Osmanischen Reiches, die historiographische Problematik des Schwellenstatus, der Cantemir und den Mavrokordati zugeschrieben wird, oder die funktionale Handhabung ihrer Mehrsprachigkeit, wurden als Anregungen für die weitere Arbeit des Teilprojekts aufgenommen.