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Extra-Ordinary Knowledge. Epistemic Forms of Representation in Roman Nature and Science Writing

Workshop des SFB-Teilprojekts Teilprojekt B07 „Die Anekdote als Medium des Wissenstransfers“ (Leitung: Prof. Dr. Melanie Möller), 25.–26.11.2022

15.09.2023

Studientag

Studientag

Bericht von Matthias Grandl
 

Miracula und mirabilia, sowohl als Sammelmaterial als auch als Kategorie zur Beschreibung der Wirkung des gesammelten Materials, spielen in der Naturalis Historia des Plinius eine wichtige Rolle. Aufgrund dieser inhaltlichen wie formalen Qualität, so wollten wir vermuten, steht der epistemische Status der vielfältigen Themen und Wissensbestände, die von der Kosmogonie und Geographie bis zur Geschichte oder von der Anthropologie bis zur Zoologie, Botanik und Medizin reichen, auf dem Spiel: Einerseits kann es diesen wunderbaren Tatsachen und ‚para‘-normalen Inhalten an Glaubwürdigkeit und Gültigkeit mangeln; andererseits kann gerade die ‚Außer-Gewöhnlichkeit‘ dieser Wissensbestände und ihr Anschein von Prekarität, Exzess und Merkwürdigkeit auch die verführerische und fesselnde (und damit epistemisch überzeugende) Seite des Wunderwissens zeigen.

Soweit unsere Ausganglage. Eines der Hauptziele dieses Workshops war es demnach, den Status dieses ‚außer-gewöhnlichen Wissens‘ in Plinius’ Werk zu diskutieren und zu fragen, durch welche Formen und Strategien der Darstellung es im Text umgesetzt wird. ‚Außer-ordentliches Wissen‘, so konnte mehrfach gezeigt werden, wird häufig durch Anekdoten dargestellt oder mit ihnen kombiniert. Besonders spannend war die Erkenntnis, dass die Anekdote dabei als eine vermeintlich sehr „gewöhnliche“ (im Sinne von aus dem Alltag gegriffene) und damit sehr zugängliche Form – in einem generellen Spannungsverhältnis zur „Außer-Gewöhnlichkeit“ des durch sie vermittelten Wissens steht. Als Fazit der Schlussdiskussion und Synopse mehrerer Vorträge ließ sich festhalten, wie wichtig zur Beurteilung der Plinius’schen Epistemologie, wie sie in der Naturalis Historia aufscheint, gerade die narrativen Strategien sind (zu den Erzählungen v.a.: Prof. Dr. Ágnes Darab, Stories of Nature. On the Anecdotal Narration of Pliny’s Natural History, Universität Miskolc, und Dr. Matthias Grandl “Curiouser and Curiouser” … Pliny’s Naturalis Historia as ‘Enchantment’ of the World, FU Berlin; zur Ableitung von Plinius’ Wissens- und Weltmodell generell: Maître de Conférences Dr. Pedro Duarte The Importance of Being Tiny: Pliny the Elder and the Knowledge of Nature Through Tiny Entities, Université d’Aix-Marseille, und Prof. Dr. Gareth Williams, Styles of Knowledge: Some Thoughts on Language, Literary Form, and the Traffic of Ideas in the Younger Seneca and the Elder Pliny, Columbia University New York).

Unsere Fragen bezogen sich aber auch komplementär auf den Mangel von Narrativität. Aufgrund des enzyklopädischen Projekts von Plinius – wenn er sich dafür entschuldigt, selektiv zu sein, eher beschreibend als unterhaltsam erzählend, oder sogar nur aufzählend und einer gewissen brevitas gehorchend – finden wir eine große Anzahl von Passagen, die das genaue Gegenteil von Narrativität sind. Gerade dort, wo wir eine radikale Verschiebung der Darstellung feststellten, welche auch mit einer Modulation eines bestimmten ‚Tempos‘ des Textes und damit mit unterschiedlichen Rezeptionsweisen seiner Leser·innen verbunden ist, konnten wir einen Blick auf den Wandel des Wissens werfen. Der enzyklopädische Gestus beinhaltet darüber hinaus Fragen nach der Ordnung und Strukturierung des Wissens, die bei Plinius zum Teil durch Markierungen, die die fortlaufenden Leser·innen durch den Text leiten, und zum Teil durch einen reichen paratextuellen Apparat aufgegriffen werden (dazu Prof. Dr. Anja Wolkenhauer, Pliny’s Indices, Display of an Epistemic Architecture).

Besonders gewinnbringend war schließlich die komparative Komponente unseres Workshops, da sie einen intertextuellen und diachronen Blick auf den Wissenstransfer ermöglichte. Dabei untersuchten wir, wie Prozesse der Umstrukturierung und Rekontextualisierung von Themen und Texten den Wissenstransfer beeinflussen. Interessant war die Frage, ob auch narrative Formen oder gar konkrete Erzählungen jenseits der relevanten Themen an diesem Prozess beteiligt sind. Welche besondere Rolle spielen dabei kleine erzählerische Einheiten? Gibt es einen konstanten Bestand an wiederkehrenden Erzählungen, und inwiefern bedeutet Plinius’ Wiederverwendung solcher Geschichten eine bloße Stabilisierung oder vielmehr einen Transfer von Wissen qua Iteration? Inwieweit sind Plinius’ narrative und nicht-narrative Strategien der Wissensdarstellung singulär oder doch exemplarisch innerhalb der übergeordneten Gattung der (Natur-)Wissenschaftstexte? Zur Klärung dieser Frage bot sich vor allem ein vergleichender Blick in Senecas Naturales Quaestiones an, die viele der von Plinius zeitgleich behandelten Themen wie Klima, Erdbeben oder die jährliche Überschwemmung des Nils aufgreifen. Was ist Senecas literarische Antwort im Hinblick auf die „Außer-Gewöhnlichkeit“ der Welt? Senecas Werk, so war festzustellen, ist relativ arm an Anekdoten, aber reich an moralischen Exempeln, erzählerischen Exkursen und anderen rhetorischen Elementen (dazu: Prof. Dr. Francesca Romana Berno, The Hail’s Watchers: Doxography and Superstition in Sen. Nat. 4b, Sapienza Università di Roma; zur Gegenüberstellung von Seneca und Plinius erneut Prof. Dr. Gareth Williams, Styles of Knowledge: Some Thoughts on Language, Literary Form, and the Traffic of Ideas in the Younger Seneca and the Elder Pliny, Columbia University New York). In den gemeinsamen Diskussionen wurde debattiert, ob diese Texte überhaupt miteinander vergleichbar seien, was man aus dem Vergleich ihrer unterschiedlichen Darstellungsweisen dennoch lernen könne und wie diese sich auf das Wissen auswirkten, das vermittelt werden soll. Auch die unterschiedlichen Zielvorstellungen der Autoren (die stoische Sichtweise gegenüber dem angeblich phänomenologischen Zugang zu den Wundern der Natur) im Zusammenhang mit der von ihnen konstruierten Episteme sei nicht zu unterschätzen.