Wissenspaarungen. Verhandlungen von Wissen in vormodernen Kulturen
Tagung des romanistischen und philosophiegeschichtlichen SFB-Teilprojekts B08 „Sibyllen & Propheten. Figural gebundene Wissenskonstellationen in der Vormoderne“ unter der Leitung von Anne Eusterschulte und Ulrike Schneider (07.12.-08.12.2023)
25.04.2024
Bericht von Şirin Dadaş
Die Tagung des romanistischen und philosophiegeschichtlichen Teilprojekts B08 „Sibyllen & Propheten. Figural gebundene Wissenskonstellationen in der Vormoderne“ zielte auf Formen der Wissensverhandlung in vormodernen Kulturen, die sich anhand von spezifischen Figurenkonstellationen festmachen lassen. Sie legte den Schwerpunkt auf Paarbildungen, Gelehrtenkonstellationen, Dialogsituationen und deren Inszenierungsweisen in literarischen, theologischen, künstlerischen, musikalischen und liturgischen Kontexten vormoderner Kulturen, um epistemische Verschiebungen, Akzentsetzungen, Umdeutungen und Zuschreibungen zu untersuchen, die an ‚Wissenspaarungen‘ unterschiedlicher Ausprägungen gebunden sind.
Anhand des in der Berliner Gemäldegalerie befindlichen und im Tagungsplakat aufgegriffenen Altarbildes von Konrad Witz, das die Königin von Saba vor König Salomo darstellt, verdeutlichten Anne Eusterschulte (Berlin) und Ulrike Schneider (Berlin) in ihrer Einführung die kulturhistorische Frageperspektive und das wissensgeschichtliche Erkenntnisinteresse der Tagung. Der Besuch der Königin von Saba am Hof von König Salomo in Jerusalem finde in unterschiedlichen Quellen Erwähnung: im Alten Testament, im Koran, in christlichen Erbauungsbüchern wie auch in äthiopischen Tradierungen. Damit sei dieser Paarkonstellation eine transkulturelle Dimension eingeschrieben, die je nach Darstellung unterschiedliche Verschiebungen und Umdeutungen erfahren könne. Mit der Paarung der Königin von Saba und Salomon würden aber nicht nur unterschiedliche Überlieferungstraditionen und mithin Attribuierungen und Deutungen der Einzelfiguren in ihrer Relationierung erkennbar, sondern auch das Moment der Aushandlung von Wissensansprüchen auf der Ebene des Dargestellten einsichtig. Darüber hinaus deuteten Gesten und Blicke, wie die Organisatorinnen betonten, eine Begegnung und Konfrontation unterschiedlicher Wissenstraditionen an, die im Augenkontakt des Königs und im entrückten Blick der Königin aufschienen. Mit der Fokussierung dieses und entsprechender Wissenspaare gehe es darum, die vielfältigen Arten ihrer Rahmung und Inszenierung zu analysieren, fiktive und reale Figuren gleichermaßen in den Blick nehmend, und ihrer Bedeutung bei der Vermittlung von Wissen und der Aushandlung von Geltungsansprüchen nachzugehen. Zu klären sei hierbei, welche Vorstellungen, Funktionen und auch Intentionen den epistemischen Paarungen zugrunde liegen.
Victoria von Flemming (Braunschweig/Berlin) widmete sich mit Demokrit und Heraklit einem Philosophenpaar, dessen Darstellung in der europäischen Kunst des 15. bis 18. Jahrhunderts Konjunktur hatte, insbesondere in den spanisch besetzten Niederlanden. Die Blüte und die Wiederentdeckung dieser in der antiken Philosophie immer wieder erwähnten Konstellation seien mit der Bedeutung der vanitas-Symbolik der Frühen Neuzeit in Verbindung zu bringen, die wiederum auf die Omnipräsenz des Todes durch Kriege und Krankheiten, auf eine als fragil wahrgenommene Weltordnung und eine durch die Glaubensspaltung verlorene Heilsgewissheit reagiere. Mit Demokrit und Heraklit werde die paralysierende Melancholie der vanitas indessen um ein affektives, entlastendes Alternativmotiv ergänzt, das traditionelle Wissensordnungen in dem Sinne herausfordere, als es die Emotionen des Lachens und Weinens neu deute und in Teilen auch rehabilitiere. Von Flemming zufolge erscheinen Demokrit und Heraklit in Darstellungen von Jordaens, Rubens, Moreelse, Baburen, Blomaert oder Terbrugghen somit nicht als Vertreter ihrer Philosophien, sondern als Repräsentanten des Lachens und Weinens. In den Kunstwerken werde zuweilen eine implizite Aufforderung zur affektiven Entscheidung, zuweilen eine Verbindung der beiden konträren Haltungen oder auch eine dritte Position erkennbar. – Musikalisch-epistemische Wissenspaarungen untersuchte Inga Mai Groote (Zürich), indem sie den Blick auf die Darstellung von Pythagoras, Jubal, David, Orpheus, Pindar und Luther auf Bildfriesen von Lehrplakaten und Flugblättern richtete. Als Figuren, denen die Entdeckung der Musik zugeschrieben worden sei und/oder die als inspirierte Dichtersänger gegolten hätten, seien sie variierend kombiniert und derart mit unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen versehen worden. In der Paarung von Pythagoras und Orpheus verwiesen die Figuren beispielsweise auf die beiden Seiten der theoretischen und angewandten Musik, in der Zusammenführung von Orpheus mit David stehe letzterer hingegen für den Gebrauch, Orpheus figuriere als Sänger, der aus der göttlichen Offenbarung heraus Musik schaffe. Groote zeigte zudem, dass auch auf den religiösen und mythologischen Bereich zurückgegriffen worden sei, um reale Wirkungen von Musik zu erfassen. – Susanne Gödde (Berlin) fokussierte mit Gaia und Apollon zwei antike Gottheiten der seherischen Wissensvermittlung innerhalb der Geschichte des delphischen Orakels, die im Vortrag nicht nur hinsichtlich der zeitlichen Abfolge, sondern auch in ihrem Verhältnis der Konkurrenz und der agonalen Paarung in den Blick genommen wurden. Als erste Inhaberin des delphischen Orakels sei Gaia erst von ihrer Tochter Themis, dann von Phoibe und schließlich von Apollon in dieser Funktion abgelöst worden. In den Darstellungen von Pindar und Euripides eigne sich Apollon die heilige Stätte allerdings gewaltsam von Themis an, und Gaia setze sich gegen diese Gewalt zur Wehr. Gödde verwies in diesem Zusammenhang auch auf Cassandra und insbesondere auf die Cumäische Sibylle, deren Empfang der Sehergabe durch Apollon bei Vergil ebenfalls mit Vorstellungen von weiblichem Widerstand und männlicher Besitzergreifung und Zähmung im sprachlichen Bild einer Vergewaltigung inszeniert werde. Diese Erotisierung und Verbindung der Weissagung mit sexueller Gewalt lässt laut Gödde auf eine geschlechtlich konnotierte Wissensordnung schließen. Auffällig und aufschlussreich sei in dieser Hinsicht auch, dass mit Platon Weissagung zwar geschlechterunabhängig als mania bestimmt werde, aber vor allem weibliche Prophetinnen – die berühmtesten Beispiele seien Pythia, Cassandra und die Cumäische Sibylle – als wahnsinnig und besessen charakterisiert würden. – Auf Sibyllen und Propheten richteten auch Anne Eusterschulte und Ulrike Schneider ihre Aufmerksamkeit in ihrer Analyse des Figurenprogramms der Fresken der Cappella Chigi in Santa Maria della Pace in Rom. In zwei Registern treffen hier antik-pagane Sibyllen in der unteren auf biblische Propheten in der oberen Wandzone, treten miteinander in Dialog und bilden derart, so Eusterschulte und Schneider, eine epistemische Paarung aus. Im Fokus stand das Verhältnis von antiken und biblischen, von weiblichen und männlichen Modellierungen einer göttlichen Wissenserfahrung. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Darstellung von Auslegungssituationen, Auslegungsbedürftigkeit sowie von material und medial gebundenen Vermittlungsformen gelegt, die in Zeigegesten, Körperhaltungen und der Attribuierung unterschiedlicher Schriftträger einsichtig würden. Gemeinsam kündeten Sibyllen und Propheten zwar von der christlichen Heilslehre, zugleich seien sie aber mit ihren je spezifischen Überlieferungstraditionen in Szene gesetzt. Andeutungen des Verbergens und Enthüllens zeugten von der Rätselhaftigkeit des seherischen Wissens, registerübergreifende Bezüge brächten das Moment der Wissensaushandlung zur Darstellung. – In ihrem Vortrag setzte sich Elke Koch (Berlin) mit dem religiösen Wissen, das sich an dramatische Marienklagen innerhalb von Mysterienspielen bindet, auseinander und benannte drei relevante Wissensbereiche in geistlichen Spielen: den biblischen Prätext, die Frömmigkeitspraxis und das performative soziolokale Wissen. Zentrales Wirkungsziel der Marienklagen sei die Vergegenwärtigung der Passion Christi. Den Schwerpunkt legte Koch auf die Integration von Prophetenfiguren in Klagen und ihre Interaktion mit Maria, die der Vergegenwärtigung des Schmerzes der Passion gedient haben könnte und zugleich eine Vermischung unterschiedlicher Zeitebenen nach sich ziehe. – Daniel Zimmermann (Berlin) widmete sich der Sibyllenfigur, der Dame Sebile, im Werk von Christine de Pizan, die er als Teil einer Strategie der Selbstautorisierung und der diskursiven Selbstreflexion auswies, welche wiederum auf den Legitimationsdruck zurückzuführen seien, der auf weiblichen Autorinnen in besonderem Maße gelastet habe. Mit der Zusammenführung der auktorialen Christine-Figur und der Dame Sebile werde in den Texten, aber auch in der buchmalerischen Darstellung, ein Frauenpaar entworfen, das keine Statusunterschiede zu erkennen gebe, sich intellektuell austausche und bei dem die Figur der Sibylle – anders als bei Vergil, aber unter Rekurs auf Boccaccio – nicht als Wahnsinnige erscheine. Entgegen der etablierten Vorstellung der dunklen, rätselhaften Rede der Sibylle werden bei Christine de Pizan vielmehr, so Zimmermann, die Klarheit und Deutlichkeit ihrer Äußerungen, ihr gemäßigtes, tugendhaftes und affektkontrolliertes Auftreten, ihre Vernunft und Ehre unterstrichen. – Fosca Mariani Zini (Tours) befasste sich in ihrem Vortrag mit Ciceros Topica und Boethius’ De differentis topicis und ging der Frage nach, ob zwischen beiden Autoren ‚logische Wahlverwandschaften‘ hinsichtlich ihrer Topik-Theorien bestehen. In ihren argumentationstheoretischen Schriften bezögen sich beide auf Aristoteles, Boethius setze sich zudem auch mit Cicero auseinander. Zini unterzog beide Texte und in besonderem Maße das Verständnis von fides (Glauben) einer vergleichenden Analyse und kam zu dem Ergebnis, dass sich mit Blick auf die Topik-Konzepte eine Paarung von epistemischen Diskursen ansetzen lasse. – Sara Taglialatela (Kopenhagen) untersuchte die unterschiedlichen Facetten der Figur des Pedanten im Werk von Giordano Bruno. Hierfür wurden der Dialog La cena de le ceneri (1584) und die Komödie Candelaio (1582) näher in Augenschein genommen. – Im Mittelpunkt des folgenden Vortrags stand Louise Labés Débat de Folie et d’Amour (1555). Anhand ihrer Textanalysen zeigte Şirin Dadaş (Berlin), wie mit der Zusammenführung der titelgebenden Figuren Folie (Wahn/Torheit) und Amour (Amor) Geschlechterverhältnisse und unterschiedliche Liebesarten und -diskurse reflektiert werden. An die spezifische Inszenierung der Figurenkonstellation knüpfe sich somit das epistemische Potential des Textes, die Stellung der Frau und Konzeptionen von Liebe zu verhandeln. Beide Figuren wie auch das Motiv des blinden Amors erfahren hierbei, so Dadaş, Umdeutungen und Umwertungen im Hinblick auf ihre Darstellungstraditionen, die auf eine Infragestellung geschlechtlicher Hierarchiebildung und eine Ausweitung liebestheoretischer Erörterungen abzielten. – Hole Rößler (Wolfenbüttel) fokussierte in seinem Vortrag frühneuzeitliche Gelehrtenporträts und untersuchte diese hinsichtlich der Autorisierungsstrategien durch Paarbildungen. Er stellte zunächst klar, dass Gelehrtenporträts als Prestigegenerator funktionierten und ihnen mithin eine wichtige Rolle innerhalb symbolischer Kommunikation zukomme. Mithilfe von Paarbildungen könne für das Wissen eines Porträtierten durch die Zusammenführung mit einem weiteren Gelehrtenporträt eine besondere Geltung beansprucht werden, so etwa im Fall von Dedikationsbildern in Handschriften und Drucken, die die Buchübergabe des Autors/der Autorin darstellten. Entsprechende Möglichkeiten der Autorisierung sah Rößler auch bei dynastischen Paarbildungen gegeben. Eheporträts könnten demgegenüber zuweilen auch der Legitimierung weiblicher Autorschaft dienen. Ein besonderes Augenmerk wurde schließlich auf bimediale Paarbildungen qua Bild und Text gelegt. – Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Hana Gründler (Florenz/Berlin), der einen Bogen ins 20. Jahrhundert schlug. Gründler widmete sich dem surrealistischen Kurzfilm Leonardos Tagebuch (1974) des tschechischen Filmemachers Jan Švankmajer und dem Dialog, den dieser mithilfe der Stop-Motion-Technik mit Leonardo da Vincis Zeichnungen herstellte, die wiederum mit echten Filmaufnahmen zusammengeführt wurden. Mit Gründlers Ausführungen konnte abschließend auch die filmische Paarung vormodernen und modernen Wissens mit in den Blick genommen werden.
Die Tagung machte deutlich, dass der Ansatz, unterschiedliche Figurenkonstellationen als ‚Wissenspaarungen‘ zu fassen, den Blick für zur Darstellung gebrachte Momenta einer Aushandlung von Wissens- und Geltungsansprüchen schärft und zu einer Reperspektivierung gängiger Sichtweisen der Forschung führen kann.