Form und Affordanz
Workshop veranstaltet vom SFB-Teilprojekt B02 „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“ unter der Leitung von Prof. Dr. Jutta Eming in Kooperation mit Prof. Dr. CJ Jones, University of Notre Dame
22.02.2024
Bericht: Carolin Pape
Am 18. und 19. Juli 2022 veranstaltete das germanistisch-mediävistische Teilprojekt „Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters“ (Leitung: Prof. Dr. Jutta Eming) in Kooperation mit Prof. Dr. CJ Jones (University of Notre Dame, Indiana) die interdisziplinäre und internationale Tagung „Form und Affordanz“ in den Räumen der SFB-Villa.
Das ursprünglich aus der Wahrnehmungspsychologie stammende und von James J. Gibson entwickelte Konzept der Affordanz wurde in den letzten Dekaden in verschiedenen Disziplinen als fruchtbarer Ansatz weiterentwickelt. Unter ‚Affordanz‘ wird in diesem Zusammenhang eine Art ‚Angebotscharakter‘ verstanden, welchen die Umwelt, aber auch hergestellte materielle Elemente, anbieten. Neben der Designtheorie, der Soziologie und der Archäologie ist auch aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive auf diesen Ansatz zurückgegriffen worden, wobei für die Untersuchung von Textmaterial insbesondere die Arbeiten von Caroline Levine (Forms, 2015; The Activist Humanist, 2023) und Rita Felski (Hooked. Art and Attachment, 2020) besondere Aufmerksamkeit erfahren haben. Mit Levines Konzeptionalisierung von ‚Formen‘ (engl. forms) lassen sich sowohl ästhetische wie soziale, aber auch politische und historische Ordnungsmuster als ‚Formen‘ beschreiben, die je spezifische Affordanzen und damit ihnen eigene Handlungsmöglichkeiten, aber auch Handlungsbeschränkungen, aufweisen können. Im Anschluss an diese Auseinandersetzungen aus verschiedenen Disziplinen wurde im Rahmen der Tagung insbesondere mit Blick auf die Relation ästhetischer und sozialer Praktiken sowie auf den Form-Begriff nach den Potentialen des Affordanz-Konzepts gefragt.
Das erste Panel vereinte Beiträge von A. J. M. Irving (University of Groningen, Niederlande): „Deduction and Deception. Reflections on the Affordances and Constraints of the Uta Codex and its Box“, Norbert Kössinger (Universität Magdeburg): „Rhythmus und Form. Mittelalterliche Schriftrollen aus liturgiegeschichtlicher Perspektive“ und Jan Fischer (Humboldt-Universität zu Berlin): „How to Do Things with Type. Buchdruck, Affordanzen, Rabelais“ und thematisierte die Affordanzen realer Objekte und welche Handlungsmöglichkeiten einerseits innerhalb einer liturgischen Praxis und andererseits bei der Gestaltung von Druckseiten aus ihren jeweiligen Formen hervorgehen.
Im zweiten Panel stand die interaktive wie narrative Funktion von erzählten Objekten und Materialien im Mittelpunkt der Überlegungen. Susanne Knaeble (Universität Bayreuth) arbeitete in ihrem Beitrag „Perspektiven der Affordanz im turnei von dem zers“ heraus, welche Handlungsoptionen von dem genannten ‚zers‘ im Nonnenturnier ausgehen und den Text maßgeblich mitstrukturieren. Silke Winst (Universität Göttingen) und Marie-Luise Musiol (Universität Paderborn): „Stock und Stein. Ecokritische Perspektiven auf Form und Affordanz“, betrachteten das Konzept der Affordanz aus ecokritischer Perspektive und zeigten anhand des Tugendsteins in Wirnts von Grafenberg Wigalois und Rennewarts ‚stange‘ in Wolframs von Eschenbach Willehalm sowohl Handlungsmöglichkeiten, welche die Objekte affordieren, als auch ihre Beschränkungen von Handlungen auf. Carolin Pape (Freie Universität Berlin): „Affordanz und âventiure in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône“ nahm die erste Wunderkette aus der Crône in den Blick und arbeitete in Bezug auf das Nichthandeln des Protagonisten in dieser Episode heraus, wie die Handlungsoptionen anhand der Affordanzen der erzählten Welt eingeschränkt werden.
Im dritten Panel richtete sich die Diskussion anhand der Vorträge von Jakob Baur (Technische Universität Dresden): „‚Angstaffordanz.‘ Schauerliterarische Formen der Artikulation und Evokation von Furcht in Carl Grosses Der Genius (1791-1794)“ und Meindert Peters (University of Oxford): „The Affordances of Story-Telling in Alfred Döblin’s Berlin Alexanderplatz“ auf die Affordanzen verschiedener Erzählformen und Fragen ihrer poetologischen Implikationen.
Am Folgetag befasste sich Dennis Disselhoff (Universität Heidelberg) in seinem Vortrag „Schwellen zum Heil. Zur Affordanz inschriftentragender Tore, Portale und Türen in der mittelalterlichen Viten- und Offenbarungsliteratur“ sowohl mit Fragen zur Visualisierung von Inschriften als auch mit der spezifischen Medialisierung ihrer Affordanzen.
Mit den Affordanzen dialogischen Formen und Strukturen befassten sich im fünften Panel Björn Buschbeck (Universität Zürich): „Möglichkeiten zur Täuschung. List und Affordanz im König Rother“, Albrecht Dröse (Technische Universität Dresden): „Affordanzen des Dialogs. Das Beispiel des sogenannten Reformationsdialogs“ wie auch Fabian Schmitz (Universität Konstanz): „Marcel Proust und die Affordanz des Du in der Konversation“.
Wie die Affordanz literarischer Formen auch politisch wirksam werden kann, zeigten Johannes Traulsen (Freie Universität Berlin): „Affordanzen der Epik. Überlegungen zu den sozialen, politischen und literarischen Formen des Rolandslieds“, Theresa Beckert (Technische Universität Dresden): „Feinde machen. Die Affordanzen verschiedener Textsorten in Prozessen der Herabsetzung, Feindbildkonstruktionen und des Otherings“ und Anita Wohlmann (University of Southern Denmark): „Stereotype as Affordance?“.
In den verschiedenen Diskussionen hat sich immer wieder gezeigt, wie ubiquitär das Konzept der Affordanz anwendbar ist, wenn es entsprechend weiterentwickelt und angepasst wird. Mit einem weit gefassten Form-Begriff lassen sich verschiedene Elemente, Strukturen, Medien, Typen und Objekte als solche Formen fassen und ihre jeweiligen Affordanzen können auf ganz unterschiedlichen Ebenen identifiziert werden. In Bezug auf Texte hat sich gezeigt, dass nicht nur ihre Materialität an sich, wie etwa ihre mediale Verfasstheit in Form von Codices, eigene Affordanzen aufweist, sondern auch innerhalb von Texten verschiedene Affordanzen sichtbar werden. Die (erzählten) Affordanzen spezifischer Formen können dabei sowohl inner- als auch extradiegetisch wirksam werden.
Die Vorträge von Antje Wilton (Freie Universität Berlin) und Mira Becker-Sawatzky (Freie Universität/SFB 980) mussten krankheitsbedingt leider entfallen.
Im Zusammenhang mit der Tagung wurde in der Veranstaltungsreihe „Wissensfragen“ des SFB 980 am 03.06.2022 ein Vortrag und Gespräch mit Caroline Levine (Cornell University) organisiert. Caroline Levine sprach zum Thema „Infrastructures of Collective Life: A Formalist’s Guide to the Climate Crisis“.
Die Tagung wurde aus Mitteln der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und des Sonderforschungsbereichs 980 ‚Episteme in Bewegung‘ gefördert.
Konzept und Organisation: Jutta Eming, CJ Jones, Antonia Murath, Carolin Pape und Falk Quenstedt
Der Tagungsband wird von Jutta Eming, CJ Jones und Carolin Pape herausgegeben und erscheint in der ersten Jahreshälfte 2024 in der SFB-Schriftenreihe Episteme des Harrassowitz-Verlags.